Die verborgene Seite des Mondes
Ah nung.«
»Bist du jetzt wütend auf ihn?«
Julia schien eine Weile nachzudenken, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe meinen Pa lieb gehabt«, sagte sie schlicht. »Warum sollte ich wütend auf ihn sein?«
Warum sie auf ihn wütend sein sollte?
Weil man jemanden lieben und trotzdem wütend auf ihn sein kann , schrie es in ihm. Simon schluckte.
»Ich hab dir das n-och gar nicht gesagt, aber das mit deinem Dad tut m-m-m... also, es tut mir leid. Er muss dir sehr fehlen.« Er nahm die Hände aus den Taschen und setzte sich neben Julia auf den Fels.
Sie wandte den Kopf und sah ihn an. »Das Merkwürdige ist, dass ich hier an diesem Ort überhaupt nicht das Gefühl habe, er würde mir fehlen. Es ist, als wäre mein Vater irgendwo da drüben bei den anderen. Ich kann ihn lachen hören. Ist das nicht verrückt?«
»Nein, ist es n-icht.«
»Mein Pa konnte wunderbar zuhören. Weißt du, es gab eine Men ge verwirrender Gedanken und Gefühle in mir, die nicht mal ich verstanden habe. Aber er hat mir immer zugehört und mich darin bestärkt, dass es in Ordnung war, was ich empfand.«
»Hört sich nach einem c-c-coolen Typen an«, sagte Simon.
»Ja.« Ein trauriges Lächeln erschien auf Julias Gesicht. »Pa hat ge meint, das Chaos in meinem Inneren käme daher, dass ich Sehn sucht nach diesem Land hätte, nach dem Land meiner Vorfahren. Und dass die Ahnen in meinem Blut wären und mir Fragen stellen würden.
›Auf ihre Fragen musst du deine eigenen Antworten finden‹, hat er gesagt. ›Und du musst lernen, deiner eigenen Stimme zu vertrau en – ohne Angst.‹
Ich versuche das manchmal, aber es ist gar nicht so leicht.« Sie schluckte heftig. »Ach Mist!« Julia wischte sich mit den Fingern die Tränen aus dem Gesicht. »Ich schaffe es einfach noch nicht, über ihn zu reden, ohne zu heulen.«
Bitte nicht weinen , dachte Simon, denn Julias Tränen brachten ihn aus der Fassung. In diesem Moment sah sie so traurig, so zerbrech lich aus, dass er sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Er wollte sie beschützen und wusste nicht, wie. Ihre Offenheit und ihr Vertrauen irritierten ihn genauso wie ihre Tränen.
Sie saßen so dicht nebeneinander, dass Simon die Wärme ihres Armes spüren konnte. Gedankenverloren betrachtete er den vollen Mond, der über dem Tenabo stand.
»Kannst du in Deutschland eigentlich die v-erborgene Seite des Mondes sehen?«, fragte er.
Julia wischte sich noch einmal über die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, Simon. Egal, wo man gerade ist auf der Welt, den Mond sieht man immer nur von einer Seite. Das kommt daher, dass er sich auch um seine eigene Achse dreht.«
»Also sehen alle nur dieses traurige Gesicht«, sagte er, ein wenig enttäuscht. »Ich dachte, auf der anderen Seite lächelt er vielleicht.«
»Vielleicht tut er das ja. Er lächelt im Verborgenen.«
Julia erzählte Simon von ihrem Leben auf der anderen Seite des Ozeans. Sie beschrieb ihm ihre Schule, ihr Haus und ihr Zimmer, ih ren Alltag. Dass sie regelmäßig schwimmen ging, eine gute Freun din namens Ella hatte und leidenschaftlich gerne kochte. Simon er fuhr, dass Julia lieber Briefe schrieb als E-Mails und viel mit ihrem Vater gewandert war.
Er mochte es, ihr zuzuhören und schweigen zu dürfen. Eine voll kommen fremde Welt tat sich vor ihm auf, ein Land, in dem es keine Wohntrailer gab, wo Häuser sich in Dörfern und Städten drängten, die viele Hundert Jahre alt waren, und wo es Leute gab, die manch mal noch zu Fuß zum Supermarkt gingen, um einzukaufen.
Wenn Julia ihm ihr Gesicht zuwandte, suchte er ihre Augen im Dunkel. Sie weinte nicht mehr, wie er erleichtert feststellte. Später schwieg sie und er merkte, dass sie sich vor dem Schweigen nicht fürchtete, wie die meisten anderen Menschen es taten.
Irgendwann begann sich die Gesellschaft am Lagerfeuer aufzulö sen. Julia stand auf. »Ich gehe jetzt lieber zurück«, sagte sie. »Meine Ma macht sich sonst Sorgen.«
Auch Simon erhob sich. Mit seiner Taschenlampe brachte er Julia zu dem altmodischen Zelt, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer Granny schlafen würde.
»Gute Nacht«, sagte er.
»Bis morgen, Simon.« Sie lächelte und diesmal lächelte er zurück.
Mit einem guten Gefühl machte Simon sich auf zu Dominics Zelt. Er hatte es geschafft, Julia eine gute Nacht zu wünschen, ohne dass sich die Worte in seiner Kehle quergestellt hatten.
12.
D en größten Teil des nächsten Tages verbrachte Julia mit Ian. Er re dete die meiste Zeit von
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