Die verborgene Seite des Mondes
zu plaudern. Alles sah ganz ungezwungen und leicht aus. So, wie es für ihn niemals sein würde.
Jungs wie Ian oder Jason würden nie um Worte verlegen sein. Wie einfach war es doch, ein Gespräch zu führen, wenn man sich darauf konzentrieren konnte, was man sagen wollte. Und nicht darum kämpfen musste, überhaupt ein vernünftiges Wort herauszubrin gen, statt wirrer Stammelei. Simon hatte längst gemerkt, dass die meisten Leute ein Gespräch mit ihm als zeitraubende Belästigung empfanden.
Mit einem Gefühl schmerzlichen Bedauerns beobachtete er die vier. Ainneen befummelte Jason pausenlos und offensichtlich gefiel ihm das. Die helle Haut des blonden Mädchens leuchtete im Licht der Sonne. Ian hatte ganz lässig einen Arm um Julias Schultern ge legt und sie schien nichts dagegen zu haben. Sie lachte über einen Witz, den Mr Dreadlock gerissen hatte. Trotzdem sah sie verloren aus.
Wenn er nur wüsste, was in ihrem Kopf vorging.
Am Abend versammelte sich ein Großteil der Anwesenden am La gerfeuer und es wurden Geschichten zum Besten gegeben. Julia saß zwischen Ian und einer kleinen alten Dame, die den Anfang machte und vom Urbeginn der Zeiten erzählte, als es nur eine Welt und ein Volk gegeben hatte.
Julia ließ ihre Blicke über die vom roten Feuerschein beleuchteten Gesichter schweifen. Ada und Hanna saßen auf der anderen Seite, neben Simon, Frank und dem Koch. Es sah so aus, als würde Simon zu ihr herüberschauen, aber sie war sich nicht sicher.
In Gedanken war sie bei ihrem Großvater, der jetzt bestimmt vor seinem Fernseher saß oder Tommy beruhigen musste, weil der sei ne Granny vermisste. Auch wenn der alte Mann die Geschichten, die hier erzählt wurden, nicht hätte hören können, hätte er doch be stimmt gerne mit den anderen am Feuer gesessen.
Die Zuhörer klatschten Beifall und Julia merkte erschrocken, dass die alte Dame bereits am Ende ihrer Geschichte angekommen war.
Ein großer Mann mit narbigen Wangen und zwei dicken Zöpfen stand auf. Er erzählte eine Geschichte vom Wolf und seinem Wider sacher, dem Kojoten. Es war die Geschichte vom endgültigen Tod der Menschen.
»Wolf, der Schöpfer allen Lebens, wusste, dass man einen verstor benen Menschen wieder lebendig machen konnte, indem man ei nen Pfeil unter den liegenden Leichnam schoss«, erzählte der Narbi ge. »Doch Kojote gefiel diese Vorstellung nicht. Er war der Meinung, Menschen sollten für immer tot sein, da sonst bald Platzmangel und Hunger herrschen würden auf der Welt.
Wolf gab seinem Widersacher nach, aber es war Kojotes Sohn, den er zuerst sterben ließ. Kojote kam zu Wolf und bat ihn, seinen Sohn mit einem Pfeil wieder lebendig zu machen. Doch Wolf wei gerte sich. Von da an musste jeder Mensch endgültig sterben.«
Julia blickte auf das Feuer, das hoch hinaufloderte, und es schien ihr, als würden die Funken bis zu den Sternen stieben. Die Ge schichte vom endgültigen Tod hatte sie traurig gemacht und plötz lich verspürte sie den Wunsch, allein zu sein. Leise schlich sie sich davon, als der nächste Geschichtenerzähler sich zu Wort meldete.
Julia lief am Küchenzelt vorbei auf eine kleine Anhöhe und setzte sich auf einen Fels. Mondlicht tauchte die Hügel in gespenstisches Licht. Die dunklen Wacholderbüsche und einzelne Pinien warfen unheimliche Schatten. Julia fürchtete sich nicht, sie mochte diesen Ort und sie mochte die Nacht. Da blieb ihr Blick an einem Licht schein über dem Horizont hängen. Es sah aus, als würde sich hinter dem Hügel eine große Stadt befinden. Aber dort war keine Stadt, dass wusste sie. Staub zog über die künstliche Lichtquelle hinweg. Was mochte das sein?
Als Julia Schritte hinter sich hörte, schreckte sie aus ihren Gedanken und drehte sich um. Es war Simon. Vermutlich hatte er ihre Ab wesenheit bemerkt und sich Sorgen gemacht, als sie nicht zurück
gekehrt war.
»A-lles in Ordnung mit dir?«
»Ja. Ich wollte nur mal einen Augenblick allein sein.«
»Oh, dann v-erschwinde ich lieber wieder . . .«
»Nein«, sagte sie schnell. »Geh nicht weg.«
Simon blieb neben ihr stehen, die Hände in den Taschen, und beob achtete den diesigen Lichtstreifen am westlichen Horizont. »Das ist die Mine«, sagte er. »Sie arbeiten auch nachts.«
»Dann schläft das Ungeheuer also niemals?«
»Nein.«
»Ich habe das alles nicht gewusst«, sagte Julia leise. »Mein Vater hat mir zwar ein paar Dinge erzählt, aber wie schlimm es um das Shoshone-Land und die Ranch steht, davon hatte ich keine
Weitere Kostenlose Bücher