Die verborgene Seite des Mondes
fragte: »Wie kann man so was bloß freiwillig lesen?«
Simon griff nach der Lampe und knipste sie aus. »Wieso? B-B-Be kommt man davon etwa auch schlechte Zähne?«
»Mit Sicherheit.« Sie lachte. »Willst du die Welt verbessern, wie meine Granny?«
Simon zuckte mit den Achseln. »Es interessiert mich eben.«
»Na schön. Und was liest du sonst so?«
»Du kannst mich ja mal besuchen, dann zeige ich es dir.«
Er stieg ein und startete den Motor. Rasselnd und quietschend setzte sich die Kiste in Bewegung. Julia fühlte sich behaglich sauber und war froh, jetzt nicht im Halbdunkel allein zurücklaufen zu müs sen und womöglich wieder dem grauen Hengst zu begegnen.
Sie fragte Simon nach dem Pferd.
Er grinste. »Hattest du Angst?«
»Ja, verdammt. Er hat mich eingekreist.«
»Sein N-ame ist Tobacco und er ist völlig harmlos. Der Appaloosa ist eingeritten, er mag Menschen. Er wollte nur mit dir spielen.«
Spielen? »Ich werde es mir merken.«
Im Trailer brannte Licht. Hanna hatte also endlich ausgeschlafen. Simon hielt an, um Julia aussteigen zu lassen.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie.
Er nickte nur.
»Gute Nacht, Simon.«
In der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Drinnen wurde sie von ihrer Mutter bereits erwartet.
»Da bist du ja endlich.« Hanna war gereizt, das hörte Julia sofort.
»Ich war an der Badestelle. Hast du meinen Zettel nicht gelesen?«
»Es ist dunkel draußen.«
»Simon hat mich im Truck mitgenommen.«
»Simon? Und was hat er dort oben gemacht?«
»Auch gebadet. « Hanna musterte sie scharf . Julia seufzte tief auf. »Wenn du es genau wissen willst: Er hat gele
sen, während ich in der Wanne saß.«
»Gelesen?«
Oh wie gut Julia diesen Tonfall kannte . »Das Kommunistische Manifest. « »Veralbern kann ich mich alleine, Julia. « »Ich veralbere dich nicht, Ma. Er saß mit dem Rücken zu mir un d
hat Marx gelesen. Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst.« »Ich rege mich nicht auf, ich habe einfach genug von alldem hier.
Wir reisen morgen ab.« »Was?« »Ist Boyds Schwerhörigkeit ansteckend? Ich sagte: Wir reisen
morgen ab. Deine Großmutter weiß Bescheid. Du kannst schon mal
deine Sachen zusammenpacken.« »Aber wir hatten Mittwoch ausgemacht. Morgen ist erst Montag.« »Ja, aber bis Mittwoch stehe ich das nicht mehr durch. Im Gegen
satz zu dir kann ich hier nichts Vergnügliches finden. Deine Grand ma kommandiert mich herum, als wäre ich ihre Dienstmagd. Ich hab mir den Magen verdorben und weit und breit gibt es kein or dentliches Klo. Ich muss hier weg, Julia, sonst drehe ich noch durch.«
Das war eine von Hannas Lieblingsdrohungen: »Sonst drehe ich noch durch.« Aber diesmal hatte Julia das ungute Gefühl, es könnte etwas Wahres dran sein. Ihre Mutter klang ziemlich hysterisch.
»Na gut«, sagte sie. »Ich verstehe dich. « Erleichtert atmete Hanna aus . »Du kannst fahren und ich bleibe hier«, sagte Julia . »Vergiss es. « »Aber warum denn? Ada und Boyd sind meine Großeltern. Ich ma g
sie und ich will sie besser kennenlernen. Mir gefällt es hier auf der Ranch. Ich habe keine Lust auf Kalifornien und auch nicht auf deine Freundin Kate. Macht euch zu zweit eine schöne Zeit.«
Hanna ließ sich auf die Couch fallen. »Ich kann dich nicht alleine hierlassen, Julia.«
»Ich bin ja nicht alleine.«
Hanna musterte ihre Tochter eindringlich.
Julia hob die Schultern. »Grandma, Grandpa, Loui-Loui, Pepper, Pipsqueak, die Ziegen, die Hühner, Tobacco . . .«
»Tobacco?«
»Ein liebes Pferd.«
»Und Simon?«, fragte Hanna.
»Der auch.«
»Aber ich will nicht, dass sich alles wiederholt.«
» Was wiederholt?«
»Na, die Geschichte zwischen deinem Pa und mir. Du bist dabei, dich in Simon zu verlieben, Julia. Merkst du das denn nicht?«
Julia schluckte verwirrt. Spürte ihre Mutter vielleicht etwas, das sie selbst nicht wahrhaben wollte? Julia glaubte nicht daran. Was wusste sie schon über Simon? Nicht das Geringste. Sie mochte ihn, das war alles. Es war etwas Stilles und Einsames an ihm, das ihr ge fiel. Simon konnte zuhören und Julia hatte das Gefühl, dass er ver stand, was in ihr vorging. Außerdem hatte er ihre Großeltern gern, das allein machte ihn schon zu einem besonderen Menschen. Aber Liebe? Julia dachte an Ian und an das, was sie bei seinem Kuss emp funden hatte. Sie war einfach nicht bereit, sich zu verlieben. In ihr war kein Platz für große Gefühle.
»Ich glaub nicht, dass du dir Sorgen machen musst«,
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