Die verborgene Seite des Mondes
holen.
Julia und Simon fassten mit an. Es war so heiß, dass die Teerpappe weich wurde und leicht riss. Deshalb ließ sie sich nur in kleinen Stü cken vom Dach abziehen. Julia schwitzte, wie noch nie in ihrem Le ben, und sie fragte sich, wie heiß es hier erst im August sein würde.
Ihre Hände, die in Arbeitshandschuhen steckten, waren feucht von Schweiß und ihr Kopf glühte, obwohl sie eine Baseballkappe trug. Bald hatte sie das Gefühl, ihr Hirn würde unter der Schädelde cke zu kochen anfangen. Aber sie war fest entschlossen, durchzu halten und keine Schwäche zu zeigen.
Zum ersten Mal bekam Julia einen Eindruck davon, wie es war, wenn Simon und ihr Großvater zusammen arbeiteten. Nämlich ge nau so, wie der alte Mann es ihr geschildert hatte: Er hörte nichts und Simon sprach nicht. Trotzdem arbeiteten sie perfekt zusam men, als wäre jeder Handgriff abgesprochen. Julia sah, wie ge schickt Simon mit seinen Händen war. Als würde er diese Arbeit schon jahrelang machen, so wie ihr Großvater.
Erneut fragte sie sich, was für ein Leben Simon geführt hatte, be vor er auf die Ranch gekommen war. Hatte er eine Familie? Wo leb te sie und warum sprach er nie über sie?
Boyd holte mit der Zange die restlichen alten Nägel aus den Bret tern, dann rollte er mit Simons Hilfe die neue Dachpappe aus. An den Seiten befestigte Simon die Pappe mit Holzleisten und der alte Mann nagelte die Lagen auf die Dachfläche.
Nach all dem, was Julia von ihrer Mutter erfahren hatte, fragte sie sich, ob jemals wieder jemand in einer dieser Hütten im Camp woh nen würde. War die ganze Mühe nicht umsonst? Arbeitete ihr Groß vater nur deshalb so unermüdlich weiter, weil er nicht wahrhaben wollte, dass es für die Ranch keine Zukunft mehr gab? Oder hatte ihre Mutter sich geirrt?
Julia nahm sich vor, Simon danach zu fragen. Am Abend würde sie ihm in seinem Wohnwagen einen Besuch abstatten.
Nach dem Abendessen zog sich Julia gleich in ihren Trailer zurück, wusch sich im rosafarbenen Waschbecken und zog sich um. Sie überlegte, was sie Simon mitbringen könnte, und ihr fiel ein, dass irgendwo in ihrem Gepäck noch eine Tafel Schokolade sein musste. Sie suchte und fand sie. Die Schokolade war in der Hitze mehrmals weich geworden und sah unglücklich aus. Trotzdem nahm Julia sie mit und macht sich mit der Taschenlampe auf den Weg zu Simons Wohnwagen.
Zusammen mit dem alten Blockhaus und einem schiefen Holz-schuppen, stand der Wohnwagen zwischen den Stämmen der alten Pappeln. Auf zwei Holzpfosten vor dem Eingang steckten ausgebli chene Kuhschädel.
In dem knapp fünf Meter langen Wohnwagen mit der runden Ka rosse aus Alublech brannte Licht. Julia stieg die drei Stufen zur klei nen Tür hinauf und klopfte. Drinnen begann Pepper zu bellen. Kurz darauf öffnete sich die Tür einen Spalt und Simon blickte Julia ver wundert an. Ganz offensichtlich hatte er nicht mit Besuch gerech net. Er trug nur ein löchriges T-Shirt und schwarze Shorts, wahr scheinlich war er schon im Bett gewesen.
»Stör ich?«
»K-K-Komm rein!«
Sie überreichte ihm die verformte Schokolade. Er lächelte und be dankte sich höflich.
Drinnen erwies sich der Wohnwagen geräumiger, als er von au ßen wirkte. Gleich rechts neben dem Eingang war eine mit blauem Stoff bezogene Liegecouch eingebaut, auf der ein zerknautschtes Laken, ein Schlafsack und ein aufgeschlagenes Buch lagen. Ein klei ner Tisch stand unter dem Fenster auf der gegenüberliegenden Sei te, sodass man auf der Couch und gleichzeitig am Tisch sitzen konn te. Es gab einen weiteren gepolsterten Sitzplatz, einen Einbau schrank, ein winziges Bad mit Waschbecken und Toilette. Im hinte ren Teil des Wohnwagens fand Julia eine kleine Einbauküche mit Kühlschrank und Gasherd.
»Ist fast alles n-och die Originaleinrichtung«, sagte Simon, der rasch in seine Jeans geschlüpft war. »Es gibt sogar fließend Wasser.« Zur Demonstration drehte er den Hahn auf und lächelte stolz. Das Geheimnis war ein großer Kanister, den er immer wieder auffüllen musste.
Aus Brettern und Ziegeln hatte Simon ein Regal gebaut, um seine Bücher unterzubringen. Das oberste Brett war für seine Steinsamm lung reserviert. Julia begutachtete die Schätze und sah, dass Simon einen besonderen Blick für außergewöhnliche Farben und Formen hatte. Ein schöner blaugrüner Stein fiel ihr auf, mit dunklen Rillen und Einschlüssen. Sie nahm ihn in die Hand und entdeckte, dass er zwei Seiten hatte. Die Unterseite des Steins war
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