Die verborgene Seite des Mondes
gewöhnlich grau, beinahe hässlich.
»Ein Türkis«, erklärte Simon. »Ich habe ihn vorne beim Camp g-efun den. Wenn du ihn an dein Ohr hältst, hörst du den uralten Fluss, des sen Herz er einst war.« Er blickte ihr in die Augen und es sah so aus, als wollte er noch etwas sagen zu diesem Stein, aber dann schwieg er doch.
Julia hielt den Türkis an ihr Ohr. Hören konnte sie nur das Rau schen ihres eigenen Blutes. Behutsam legte sie ihn zurück.
»Die Steine im Trailer, hast du sie dorthin gelegt?«
Er nickte verlegen.
»Sie sind schön.«
»Es sind Träume.«
Julia musterte Simon eindringlich. Dann zeigte sie auf den weißen, gefleckten Stein, den Simon auf dem Versammlungsplatz in den Ber gen gefunden hatte. »Der Traum eines Appaloosa-Hengstes?«
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Stimmt.«
Sie nahm einen länglich geformten Stein auf, der einen hellen Ockerton hatte, und sah Simon fragend an.
»Alle gelben Steine hüten die Geheimnisse der Eulen«, sagte er.
Julia bekam eine Gänsehaut und legte den Stein zurück.
Sie schaute sich weiter um und wurde von etwas anderem gefes selt. Eine Wand des Wohnwagens war mit Fotos verziert. Alle waren schwarz-weiß oder sepiafarben, deshalb dachte Julia zuerst, es wä ren alte Fotografien, wie im Wohnzimmer ihrer Großmutter. Ein Fo to zeigte rostige Autoteile, überrankt von einer Pflanze mit großen weißen Blüten. Auf einem anderen waren halb eingefallene Zäune zu sehen, ausgeblichen und krumm. Ein rostiger Truck ohne Räder war auf dem nächsten abgebildet und das darunter zeigte eine alte Holzhütte mit offener Tür, die wie das aufgerissene Maul eines Un geheuers anmutete. Julia erkannte die Hütte wieder. Sie hatte mit Ian davor gestanden. Das Foto stammte aus der Geisterstadt in den Bergen.
»Hast du die Fotos gemacht?«, fragte sie verblüfft.
»Hm.«
»Sie sind ungewöhnlich.« Julia betrachtete die Fotos noch einmal genau. »Du hast nur Dinge fotografiert, die im Verfall sind, Dinge, die . . .«, sie suchte nach Worten.
»Sterben«, half er ihr.
»Ja.« Fragend sah sie ihn an.
»Sterbende Dinge sind schön«, erklärte Simon. »Sie sind, was sie sind, und können in Ruhe schweigen.«
Er erzählte ihr, dass er die Digitalkamera im vergangenen Herbst von Dominic geschenkt bekommen hatte und er seitdem hin und wieder fotografierte.
Und dann stellte Julia ihm die Frage, die sie unablässig beschäftig te. »Stirbt die Ranch, Simon? Hast du deshalb all diese Fotos ge macht?«
Simon war sichtlich erschrocken über ihre Direktheit und sie merkte, wie er krampfhaft nach einer passenden Antwort suchte.
»Alles stirbt irgendwann einmal«, sagte er schließlich. »Aber d-u hast doch den alten Mann heute gesehen. Er ist stark. Und deine Granny ist auch stark. Solange sie leben, stirbt die Ranch nicht.«
Julia dachte eine Weile über Simons Worte nach, dann ließ sie ih ren Blick weiter durch den kleinen Raum schweifen, der sein Zuhau se war.
Aufgrund der Brandflecken im Linoleumboden vermutete Julia, dass früher einmal ein Ofen im Wohnwagen gestanden haben muss te. Das Loch, durch das einst das Ofenrohr nach draußen führte, war mit Lumpen abgedichtet.
Julia beendete ihren Rundgang und setze sich auf den Polsterses sel am Klapptisch. »Gemütlich hier«, sagte sie.
Simon atmete erleichtert aus.
»Aber wie heizt du im Winter? Du hast keinen Ofen?«
»Ich k-k-kann nicht heizen.«
»Aber du hast doch Strom.« Sie zeigte auf die Glühbirne, die von der Decke hing.
»N-ur für Licht.«
Julia überlegte. »Mein Pa hat mir erzählt, dass es im Winter hier richtig kalt werden kann.«
»Stimmt. Aber im Winter b-b-bin ich ja sowieso m-eistens drüben.« Er setzte sich im Schneidersitz auf die Couch. Gegen ihren Willen musste Julia auf Simons braune Knie starren, die aus den Löchern in seinen Hosenbeinen schauten.
»Dann schläfst du im Winter auch drüben?«
»Nein.«
Nach einigem Zögern erzählte Simon Julia, dass er im Winter im Ranchhaus auf dem Herd einen Stein heiß werden ließ, ihn in Zei tung wickelte und am Abend mit in den Wohnwagen brachte. »Dann ist es in m-einem Schlafsack schön warm.« Er lächelte scheu und sie sah ihn ungläubig an.
»Aber hier stand doch mal ein Ofen drin.«
»N-icht seit ich hier bin. Es ist in Ordnung, g-g-glaub mir.«
Julia glaubte ihm nicht. »Du hältst es wie unsere Vorfahren, nicht war?«, bemerkte sie. »Kein Anhäufen von überflüssigem Besitz.«
Simon sah sie nachdenklich an. »Materieller
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