Die verborgene Seite des Mondes
Besitz beeinflusst dei ne Sinne. Du glaubst g-g-gar nicht, wie wenig man zum Leben braucht. Wenn du zu v-iel besitzt, kannst du nicht allen Dingen die gleiche Beachtung schenken. Und was unbeachtet herumliegt, ist wertlos. Warum sollte ich wertloses Zeug anhäufen?«
»Gute Frage.« Julia lachte kopfschüttelnd. »Du bist schon komisch, Simon.«
Sein Blick veränderte sich. Er wurde erst unsicher und dann hart. Julia bemerkte, wie Simon sich verschloss, und bereute ihre unbe dachte Äußerung.
»Ich hab es nicht so gemeint«, sagte sie.
»Was?«, fragte er. »Dass ich ein k-k-komischer Vogel bin?«
»Das habe ich überhaupt nicht gesagt. Du bist nur so völlig anders als die Jungs, die ich kenne.«
Wie anders? , schrie es in ihm. Simon wünschte, er wäre wie die Jungs, die Julia kannte. Er wollte normal sein, was immer das auch bedeuten mochte. Wenigstens normal sprechen. War das zu viel verlangt?
Julia merkte nichts von Simons Pein. Sie kauerte jetzt vor seinem Bücherregal, den Kopf schief gelegt, und las die Titel der Bücher. Er fragte sich verzweifelt, ob sie damit etwas anfangen konnte oder ob er ihr nun noch merkwürdiger vorkam, weil er Shakespeare las, Gandhi, Hemingway und Dostojewski. Wenn er doch nur Dan Browns Sakrileg dahätte oder irgendeinen Grisham. Dann hätte er vielleicht wenigstens den Büchertest mit normal bestanden.
»Und was liest du, wenn du dich amüsieren willst?«, fragte Julia und hob den Kopf.
Er griff hinter sich und hielt eine zerlesene Ausgabe von Winnie Pu und seine Freunde in die Höhe.
Julia erhob sich und ihre Augen wurden zu winzigen Halbmonden. Sie setzte sich neben Simon auf die Couch. Pepper winselte leise und sie streichelte ihn zärtlich.
Zum ersten Mal fühlte Simon sich unbehaglich in der Stille. Julia so nah neben sich zu haben, raubte ihm fast den Atem und tat beinahe ein bisschen weh. Er wollte etwas Belangloses sagen, aber die Wor te zerfielen bereits in seiner Kehle in ihre Einzelteile. Resigniert presste er die Lippen zusammen.
»Wir mussten in der Schule auch Shakespeare lesen«, sagte Julia. »Ich fand es langweilig. Aber Eine andere Welt von Baldwin hat mir gefallen. Mein Pa hat es mir empfohlen.«
Na wenigstens der Baldwin ist ein Treffer, dachte Simon erleich tert.
Er merkte, dass Julia mit einem Mal traurig wurde und ein Stück in sich zusammensank. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie an ihren Vater denken musste. Der Impuls, sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, wie gern er sie hatte, war groß. Aber Simon wuss te nicht, ob es richtig war, sie zu berühren.
So nah war sie ihm. So nah, dass er den Duft ihrer Haare riechen konnte. Er stupste mit seinem Knie gegen ihres und sagte: »Hey?«
Julia hob den Kopf. »Sei mir nicht böse, aber ich fürchte, ich bin im Augenblick keine gute Gesellschaft.«
»Schon in Ordnung«, war alles, was ihm dazu einfiel.
»Manchmal vergesse ich, dass mein Pa tot ist«, sagte sie leise. »Wenn es mir bewusst wird, hasse ich mich dafür.«
In Zeitlupe bewegte sich Simons Hand hinter ihrem Rücken. Doch da stand sie plötzlich auf. »Kann ich mir ein Buch ausleihen? Ich hab nichts zu lesen mitgenommen von zu Hause.«
»Klar. Was du willst.«
» Winnie Pu wäre cool. Ich glaube, ich brauch etwas, das mich auf heitert.«
»Okay.«
Julia nahm das Buch und sagte: »Wenn du Lust hast, kannst du mich auch mal besuchen. Du weißt ja, wo ich wohne.«
Bevor sie ging, griff sie in ihre Hosentasche und zog etwas hervor.
Simon erkannte den grauen, schmucklosen Stein, den er mit den beiden anderen auf den Nachtschrank im Trailer gelegt hatte.
»Warum dieser Stein, Simon?«, fragte Julia. »Was ist Besonderes an ihm?«
»Er ist traurig, wie du.«
Sie sah ihm in die Augen und er hielt ihrem Blick stand.
»Ein grauer Stein ist ein Wort aus der Sprache, die den Toten ge hört.« Simon nahm Julias Hand und schloss ihre Finger um den Stein. »Behalte ihn. Eines Tages wirst du ihn verstehen.«
Er öffnete ihr die Tür und sah ihr noch so lange nach, bis im Trailer Licht brannte. Dann schloss er die Tür wieder und setzte sich auf seine Couch. Langsam ließ er sich auf den Rücken sinken und starrte an die Decke.
14.
E in Höllenlärm weckte Julia am nächsten Morgen. Sie stieg vom Bett und blickte aus dem Fenster. Draußen fuhr ihr Großvater Boyd auf einem Fourwheeler den Feldweg hinter dem Trailer entlang.
Schnell stieg sie in ihre Sachen und wusch sich, in der Hoffnung, Simon vielleicht noch im
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