Die verborgene Seite des Mondes
leben können – nun, da er wusste, wie einsam sein Körper bisher gewesen war? Was würde mit ihm passieren, wenn sie nicht mehr da war? Daran durfte er jetzt nicht denken. Nicht in diesem Augenblick. Julia war hier, bei ihm. Sie hatte ihn geküsst und er hatte diesen Kuss mit seinem ganzen Körper gespürt. Er spürte ihn immer noch.
Als das Beifußfeld endete, begannen die grasbewachsenen Berge. Weiße, blaue und rosafarbene Blumenkissen breiteten sich auf den samtenen Hügeln aus. Scharen kleiner indigoblauer Schmetterlinge umflatterten sie. Es waren Hunderte.
Simon strebte auf eine rötliche Felsgruppe zu, die aus dem Gras teppich wuchs wie eine kleine Festung. Dort befanden sich die Ritz zeichnungen der Vorfahren. Ada war dagegen, Neugierige hierher zuführen. Die genaue Beschreibung heiliger Stätten gegenüber Fremden war in ihren Augen ein Sakrileg. Aber Julia war keine Frem de.
Der Ort würde ihm die Kraft geben, ihre Fragen zu beantworten und ihr endlich zu sagen, dass er sie ebenfalls mochte.
Als sie die kantigen Granitbrocken erreicht hatten, zog er Julia hinauf, bis sie ganz oben standen. Von dort konnte man weit über das Tal blicken. Wie eine kleine dunkelgrüne Insel lag die Ranch mitten im silbergrauen Beifußmeer. Auf der anderen Seite bildeten die schneebedeckten Berge der Shoshone Range den Horizont.
Sie wandten der Ebene den Rücken zu, sodass sie auf die nahen Hügel und in ein kleines grünes Tal blicken konnten, durch das ein Bach floss. Niedrige Beerensträucher wuchsen am Bachlauf. Weiter oben standen die Pferde. Tobacco, der Appaloosa-Hengst, mit sei ner kleinen Herde.
»Es ist wunderschön hier«, sagte Julia.
»Ich b-in oft hier oben.«
»Das dachte ich mir.«
»Komm, ich will dir etwas zeigen.«
Er half ihr, über die Felsen zu klettern, bis sie vor der Wand mit den Zeichnungen standen. Merkwürdige Linien und Kreise, die für ihn keinen Sinn ergaben. Aber dieser Ort barg eine große Kraft, das
spürte Simon jedes Mal, wenn er ihn besuchte.
Er ließ sich nieder und Julia setzte sich neben ihn.
»Sind die sehr alt?«, fragte sie.
»Ja. Mehrere Tausend Jahre, behauptet deine Großmutter.«
»Weißt du, was sie bedeuten?«
Er schüttelte den Kopf. »Deine Granny sagt, manches müsse eben ein Geheimnis bleiben, um seine Kraft zu bewahren.«
Langsam spürte Simon, wie die Macht des Ortes zu wirken begann und sein Mut wuchs. »Du kannst mich jetzt fragen.«
»Was?«
»Na, alles, was du über m-ich wissen willst.«
Überrascht sah sie ihn an. »Und du wirst mir antworten?«
»Ich . . . ich werde mir Mühe geben.«
Nach einigem Zögern hob sie ihre Hand und schob sie unter sein Haar in die Halsbeuge, um vorsichtig seine wulstige Narbe zu be rühren. Das war ihre erste Frage, eine, für die sie keine Worte brauchte.
Und so begann Simon im Schatten des Felsens die längste Rede, an die er sich erinnern konnte. Er erzählte von sich und von seiner Kindheit, die nie eine gewesen war. Julia saß dicht bei ihm. Ihre Nä he zu spüren, beruhigte ihn.
Die ersten Jahre seines Lebens hatte Simon in Winnemucca verbracht. An seinen Vater konnte er sich nicht erinnern, er verschwand, als Simon drei war. Seine Mom herzte und küsste ihn, wenn sie nüchtern war. War sie es nicht, schrie sie herum und manchmal schlug sie auch zu. Liebesbekundungen und Wutausbrüche wechselten einander ab. Die Unberechenbarkeit seiner Mutter verunsicherte Simon. Er wurde immer trotzköpfiger und verstockter. Damals war er noch zu klein, um zu begreifen, warum seine Mutter nicht war wie andere Mütter. Für ihn war sie der Mittelpunkt der Welt, um den sich alles drehte. Von ihr kamen Essen und Wärme und Versprechungen. War sie betrunken, setzte es Schläge, er spürte, was Hunger war, und musste erfahren, dass Versprechungen nur leere Worte sein konnten.
Simon sprach ruhig, fast ohne zu stottern, was ihn selbst am meis ten wunderte. Er erzählte Julia, wie er sich als Fünfjähriger eines Ta ges den ganzen Nachmittag im Schlamm gesuhlt hatte und seine Mutter böse auf ihn war, weil er dreckverschmiert ins Haus kam. Sie machte Wasser auf dem Herd heiß für die Zinkwanne, die auf der Veranda stand. Aber es war Mai und noch kühl und er fror und woll te sich nicht ausziehen. Mit wildem Gezeter zerrte sie ihm den Pull over samt Hemd über den Kopf. Zähneklappernd stand er da, mit nacktem Oberkörper, und weigerte sich, aus seinen schlammigen Hosen zu steigen. Seine Mutter brüllte ihn an. Der Alkohol war
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