Die verborgene Seite des Mondes
in ih rer Stimme, in ihrem Atem – und sie hielt den Topf mit dem heißen Wasser in den Händen.
»Ich weiß nicht, ob sie das wollte, ob sie mich so verletzen wollte«, sagte er. »Aber sie hat es g-etan.« Wenn er nur daran dachte, hatte er immer noch sein eigenes Brüllen im Ohr.
Danach hatte Simon monatelang kein Wort geredet. Der Schock darüber, was seine Mutter ihm angetan hatte, saß tief. Schließlich begann er doch wieder zu sprechen, aber die Worte kamen nur noch in Purzelbäumen oder mit Ladehemmung aus ihm heraus.
Mit seinen schweren Verbrennungen lag er lange im Krankenhaus, doch als seine Wunden verheilt waren, schickten sie ihn nach Hause zurück. Von da an war er auf der Hut. Er mied den Blick seiner Mut ter und gehorchte stets ihren Anordnungen.
Als Simon zehn war, wurde seine Mutter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie im Supermarkt, in dem sie als Aushilfskraft arbeitete, Geld gestohlen hatte. Man brachte Simon in ein Heim und übergab ihn später der Obhut einer Pflegefamilie. Im Alter von vierzehn Jahren hatte er sieben Pflegefamilien durchlaufen. Schließlich verließ er die Schule ohne Abschluss und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch.
»Weißt du, niemand hat es mir beigebracht«, sagte er niederge schlagen. »Ich meine, wie man liebt.«
Er sah Julia ins Gesicht, ihre Augen hatten sich zu einem warmen Meeresgrün verdunkelt. Simon spürte, dass sie wirklich da war, hier bei ihm und seiner Geschichte. Und ihr Mitgefühl war die natürlichs te Sache von der Welt.
»Manchmal habe ich Angst, dass ich wie meine Mutter werde«, sagte er. »Ich kann nichts Gutes tun und nichts Schönes vollbrin gen, weil ich ein Teil von ihr bin und immer ein Teil von ihr sein werde.«
Julia bewunderte Simon. Jahrelang hatte er alles getan, damit kei ner seine Verletzungen bemerkte, die ein Teil seines Wesens ge worden waren. Nun hatte er sich ihr gegenüber geöffnet. Simon vertraute ihr. Sie hätte ihn umarmen können vor Freude, aber das hätte ihn wohl nur noch mehr durcheinandergebracht.
Stattdessen nahm sie seine Hände. »Das ist nicht wahr«, wider sprach sie mit rauer Stimme und kämpfte gegen die Tränen an. Ein dicker Kloß in ihrer Kehle hinderte sie am Sprechen. So fühlte sich das also an, wenn man etwas sagen wollte und es nicht konnte.
»Du tust so viel Gutes«, brach es schließlich aus ihr heraus. »Für meine Großeltern, für Tommy, für alle, die deine Hilfe brauchen.«
»Ach, das ist doch mein Job.«
»Dein Job?« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Bezahlt dich Grandma überhaupt?«
Simon nickte verlegen. Er nahm einen Stein auf und spielte damit.
»Was bekommst du denn im Monat?«
»Einhundertfünfzig Dollar.«
Das verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Simon schuftete von morgens bis abends, kannte kein Wochenende und bekam ei nen Hungerlohn dafür. In diesem Augenblick schämte Julia sich
schrecklich für ihre Großmutter.
Simon sah sie an und lächelte schief. »Nicht die Wucht, oder?«
Julia schüttelte vehement den Kopf. »Karl Marx würde sich im Grab herumdrehen.«
Simon lachte und ließ den Stein von einer Hand in die andere fal len. »Ach, na ja. Ich darf die Autos fahren, Kost und Logis sind frei und sämtliche Indianerweisheiten auch.«
»Und im Winter gibt es statt Heizung einen heißen Stein in Zei tung gewickelt. Wie hast du diese lukrative Arbeitsstelle samt luxu riöser Unterkunft überhaupt gefunden?«
Es erstaunte Julia, wie locker sie sich auf einmal unterhalten konn ten. Simon stotterte überhaupt nicht mehr. Ob ihm das wohl schon aufgefallen war?
»Vergangenen Sommer war ich hier in der Gegend auf Jobsuche«, antwortete er.
Julias Augen wurden zu Halbmonden. »Wolltest du etwa in der Mi ne arbeiten?«
Entsetzt schüttelte er den Kopf. »Oh nein, bestimmt nicht.«
Sie erfuhr, dass Dominic, der große Koch ihn auf dem Weg zum Western-Shoshone-Sommertreffen an der Straße aufgelesen und festgestellt hatte, wie hungrig und zerlumpt er war. Dominic hatte für Simon gekocht, hatte ihm neue Kleider besorgt und ihn in sei nem Zelt schlafen lassen. Und Simon hatte das Seine getan, um sich dafür zu bedanken. Er hatte mitgeholfen, das Küchenzelt aufzubau en und während des Treffens die Mahlzeiten zuzubereiten.
Nach der Zusammenkunft war er mit Dominic und einigen ande ren auf die Ranch gekommen. Er hatte im Camp gelebt und war Juli-as Großvater zu Hand gegangen. Sehr schnell hatte Simon den alten Mann, der immer freundlich zu ihm
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