Die verborgene Seite des Mondes
auch, meine Kleine. Ich auch.« Schluchzer erstickten ihre Worte und Julia spürte das Beben in der Brust der alten Frau.
»Warum können Ma und ich nicht füreinander da sein?«, fragte sie, als sie sich voneinander lösten.
»Weil du es vorgezogen hast, auf deine Weise mit dem Verlust fer tig zu werden, und das ist auch vollkommen in Ordnung.«
»Pa hat oft Sehnsucht nach der Ranch gehabt«, sagte Julia, »und jetzt kann ich ihn verstehen. Ich habe ihn nie gefragt, weißt du. Viel leicht wollte ich nur nicht, dass er seine Sehnsucht ausspricht, weil sie dann zu einer Sache geworden wäre, die zwischen uns gestan den hätte.«
»Das ist alles ganz schön verwirrend, nicht wahr?«
Julia nickte.
»Wenn es nach deinem Großvater gegangen wäre, hätten wir uns schon viel früher kennengelernt«, sagte Ada. »Doch eines musst du mir glauben, Julia: Du hattest immer einen Platz in meinem Herzen.« Sie stieß den Pflanzstock in den Boden. »John war so stur. Er wollte dich nur mitbringen, wenn auch seine Frau willkommen war. Doch ich wollte deine Mutter nicht hier haben. Ich habe deinem Vater sehr wehgetan mit meiner Starrköpfigkeit.« Sie seufzte. »Manchmal
vergessen Menschen, wie gern sie einander haben.«
»Jetzt bin ich ja hier.«
»Ja, das bist du. Und was auch passiert, Julia, ich bin froh, dass du da bist.«
»Das bin ich auch, Granny.«
Am Nachmittag setzte sich Ada über ihre Papiere und Julia packte ihre Waschtasche zusammen. Sie schnappte sich ein Handtuch und ein paar saubere Sachen, dann machte sie sich auf den Weg zur heißen Quelle. Die Sonne brannte vom Himmel wie jeden Tag, doch die Luft hatte sich verändert. Sie war drückend und schwül. Ganz weit im Süden entdeckte Julia dunkle Wolken. Aber die waren jeden Nachmit tag da und es regnete ja doch nie.
Im Licht der Nachmittagssonne leuchtete das trockene Grün der Cortez Mountains beinahe golden. Nachdem sie die Beifußebene hinter sich gelassen hatte, hielt Julia Ausschau nach Tobacco, dem Appaloosa-Hengst, aber weder er noch die anderen Pferde waren ir gendwo zu sehen.
Oben angekommen, füllte sie die Wanne und stieg in das Wasser, das gewärmt war vom Herzen der Erde. Julia wusch ihre Haare und schrubbte sich gründlich, dann lehnte sie sich wohlig zurück, geba det in Sonnenlicht. Sie ließ den Tag in ihre Poren dringen und atme te die satten Gerüche des Landes.
Julia war froh, auf der Ranch geblieben zu sein. Sie liebte ihren Großvater Boyd und zwischen ihr und ihrer Granny wuchs langsam etwas, das einer Art von spröder Zuneigung gleichkam.
Und Simon? Simon hatte ihre Traurigkeit aufgefangen und ihr das verloren gegangene Selbstvertrauen zurückgegeben. Es war sein stilles Wesen. Was immer er sagte oder tat, war etwas Besonderes. Ein Pfeifen – Lady in Black – holte Julia aus ihren Gedanken. Ihr blieb keine Zeit darüber nachzusinnen, wie sie sich aus dieser Situa tion retten könnte, denn schon tauchte Simon vor ihr auf, ein ver
waschenes rotes Handtuch über der Schulter. Er war genauso er schrocken wie sie und schien vollkommen blockiert, sodass kein einziges Wort über seine Lippen kam.
Julia kreuzte die Arme vor der Brust und rutschte ein Stück tiefer ins Wasser. Nachdem Simon seine Sprache wiedergefunden hatte, sagte er: »Tut mir leid, ich wusste n-icht . . .«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn zum ersten Mal. »Ich glaube dir. Aber du könntest wenigstens wegsehen.«
Er drehte sich gehorsam um, machte jedoch keine Anstalten, wie der zu verschwinden. Wie angewurzelt stand er da.
Julias Gedanken schlugen Purzelbäume. Sie war so erfüllt von ih ren Gefühlen für Simon, dass es in ihr summte wie in einem Bienen haus. Was sie empfand, stimmte nicht mit ihren Worten überein. In Wahrheit wollte sie, dass er sah, was noch nie ein Junge gesehen hatte. Sie wollte, dass er sie schön fand. Und sie begriff, dass die erstaunlichsten Dinge passieren, wenn man überhaupt nicht mit ih nen rechnet.
Julia atmete tief durch. »Na ja«, sagte sie schließlich. »Wenn du schon einmal da bist, kannst du ja auch mit reinkommen.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Simon sich wieder zu ihr umdreh te. Sein unsicherer Blick suchte ihre Augen. Als ob sie sich einen Scherz mit ihm erlaubt hätte.
»Beeil dich«, sagte Julia. »Bevor ich kalte Füße kriege und es mir anders überlege.«
In Windeseile fielen seine Kleider zu Boden und Simon saß ihr ge genüber in der Wanne. Das Wasser war nicht mehr wirklich sauber, aber das schien ihn
Weitere Kostenlose Bücher