Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
auch meinen Argwohn gegenüber Grant geschürt. Ich hatte mich geweigert zu glauben, dass er mich liebte oder dass er mich noch lieben würde, wenn er die Wahrheit kannte.
Grant nahm an, seine Mutter habe das Feuer gelegt, dem unser beider Leben zum Opfer gefallen war. Obwohl er nie darüber sprach, war mir klar, dass er ihr nicht verziehen hatte. Aber sie traf keine Schuld. Meinetwegen waren die Reben in Flammen aufgegangen. Meinetwegen war Elizabeth nicht zu Catherine gezogen. Meinetwegen hatte Grant seine Jugend damit verbracht, allein seine kranke Mutter zu pflegen. Ich wusste zwar nicht, auf welche Weise Catherine den Verstand verloren hatte, doch aus der Art, wie Grant mich liebte, schloss ich, dass es langsam und im Verborgenen geschehen war. Grant hatte Elizabeth ebenso gebraucht wie ich.
Nun war es zu spät. Der Weinberg war abgebrannt. Grant war seine ganze Jugend (mit Ausnahme der sechs Monate mit mir) allein gewesen. Ich hatte die einzige Frau verloren, die je versucht hatte, mir eine Mutter zu sein. Es war zu spät, umzukehren, zu spät, meine eigene Kindheit zu retten. Aber obwohl es zu spät war, quälte mich ein Gedanke ganz besonders: Ich wollte zurück zu Elizabeth. Mehr als alles auf der Welt wollte ich Elizabeths Tochter sein.
Mitte August war ich ebenso erschöpft von einem nicht enden wollenden Terminplan von Sommerhochzeiten wie von den nicht enden wollenden Gedanken an meine Tochter, Elizabeth und Grant. Ich verschanzte mich im blauen Zimmer. Zum ersten Mal, seit ich Botschaft gegründet hatte, schloss ich alle sechs Schlösser ab und verschlief sämtliche Termine in unserem Kalender. Marlena sprang für mich ein. Das Pfeifen des Kessels drang in meine Träume, wenn sie Tee für die Kunden kochte, aber ich verließ das Zimmer nicht. Die Schlösser verhinderten, dass ich in mein Auto stieg, geradewegs zum Wasserturm fuhr, in den zweiten Stock hinaufrannte und mir mein Baby zurückholte. In meiner Phantasie lag sie noch immer hilflos in ihrem Körbchen und starrte stumm an die Decke. In Wirklichkeit war sie bereits sechs Monate alt, konnte allein sitzen, nach Dingen greifen und vielleicht schon krabbeln.
Ich blieb fast eine ganze Woche in dem blauen Zimmer. Marlena störte mich nicht, aber jeden Morgen schob sie mir eine fotokopierte Seite unter der Tür durch. Es war unser Terminkalender für September, der sich unaufhörlich füllte, während die Tage vergingen. Ich hatte erwartet, dass mit dem zunehmend kühleren Wetter die Arbeit weniger werden würde, doch es schien, als hätten wir immer zu tun. Meine Angst, die anfallende Arbeit nicht mehr zu schaffen, siegte über meine Teilnahmslosigkeit. Ich nahm eine Banane aus dem Obstkorb, den Marlena gefüllt hatte, und ging nach unten. Marlena saß am Tisch und kaute auf dem Ende eines Bleistifts. Bei meinem Anblick lächelte sie.
»Ich wollte schon zum Gathering House, um eine neue Assistentin einzustellen«, meinte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Hier bin ich. Was kommt zuerst?«
Sie konsultierte den Kalender. »Bis Freitag nichts Wichtiges. Aber danach müssen wir sechzehn Tage durcharbeiten.«
Ich stöhnte auf, war aber in Wirklichkeit erleichtert. Blumen waren meine Fluchtmöglichkeit. Mit Blumen in der Hand würde ich den Herbst vielleicht überstehen. Und vielleicht würde die Zeit meine Wunden heilen. Zumindest hoffte ich das, auch wenn es sich bis jetzt nicht bewahrheitet hatte. Eher schien das Gegenteil zuzutreffen. Mit jedem Tag, der verging, fühlte ich mich elender und litt stärker an den Folgen meiner Entscheidung. Ich drehte mich um und wollte nach oben zurückkehren.
»Verkriechst du dich wieder in deiner Höhle?«, fragte Marlena. Sie klang enttäuscht.
»Was soll ich sonst tun?«
Marlena seufzte. »Ich weiß nicht.« Sie hielt inne. Ich wandte mich um. Offenbar wusste Marlena es doch, hatte aber Schwierigkeiten, es in Worte zu fassen. »Neben dem Flora hat ein neuer Sandwichladen aufgemacht«, meinte sie schließlich. »Ich dachte, wir könnten uns dort etwas zum Mittagessen holen und dann eine Spazierfahrt unternehmen.«
»Eine Spazierfahrt?«
»Genau.« Sie schaute zum Fenster hinaus auf die Straße. »Um sie zu sehen.«
Marlena meinte meine Tochter. Doch für den Bruchteil einer Sekunde, bevor mir das klarwurde, glaubte ich, dass sie von Elizabeth sprach, und es erschien mir genau das zu sein, was ich tun musste. Ich kannte ihre Adresse und den Weg dorthin. Auch wenn es zu spät war, als ihr Kind in ihrem Haus
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