Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
dem Blatt Papier, das sie mir gegeben hatte, war jeder Geschäftsabschluss in allen Einzelheiten vermerkt: Name des Kunden, Art der Blumen und die Menge. Renata überflog die Liste rasch und nickte, als hätte sie genau gewusst, wer in den Laden kommen und was derjenige kaufen würde. Sie steckte den Zettel in die Kasse, nahm ein Bündel Zwanzigdollarscheine aus der Tasche und zählte drei ab.
»Sechzig Dollar«, sagte sie. »Sechs Stunden. In Ordnung?«
Ich nickte, rührte mich jedoch nicht. Renata schaute mich an, als warte sie darauf, dass ich etwas sagte. »Möchtest du mich fragen, ob ich dich nächsten Samstag wieder brauche?«
»Und brauchst du mich?«
»Ja, um fünf«, erwiderte sie. »Und am Sonntag auch. Keine Ahnung, warum jemand an einem Sonntag im November heiraten will, aber es geht mich ja nichts an. Normalerweise ist um diese Jahreszeit nicht viel los, doch die Geschäfte laufen momentan wie noch nie.«
»Dann also bis nächste Woche«, meinte ich und schloss vorsichtig die Tür hinter mir, als ich auf die Straße trat.
Mit Geld im Rucksack fühlte sich die Stadt wie neu an. Ich spazierte den Hügel hinunter, blickte interessiert in Schaufenster, las Speisekarten und informierte mich über die Preise in billigen Motels südlich der Market Street. Unterwegs dachte ich über meinen ersten Arbeitstag nach: eine ruhige Kühlkammer voller Blumen, ein kahles Ladenlokal, eine Chefin mit einer direkten und sachlichen Art. Mein Traumjob. Nur eine Begegnung hatte Befangenheit in mir ausgelöst: das kurze Gespräch mit dem Blumenhändler. Die Vorstellung, ihn am kommenden Samstag wiederzusehen, machte mich nervös. Ich beschloss, mich darauf vorzubereiten.
In North Beach stieg ich aus dem Bus. Es war früher Abend, und gerade senkte sich der erste Nebel über Russian Hill, so dass sich die Scheinwerfer der Autos in weichgezeichnete gelbe und rote Kugeln verwandelten. Ich lief so lange, bis ich auf eine schmutzige, billige Jugendherberge stieß, zeigte der Frau am Empfang mein Geld und wartete ab.
»Wie viele Nächte?«, erkundigte sie sich.
Mit einer Kopfbewegung wies ich auf die Geldscheine auf der Theke. »Für wie viele reicht das?«
»Ich gebe Ihnen vier«, erwiderte sie. »Aber nur, weil wir Nachsaison haben.« Sie stellte mir eine Quittung aus und zeigte den Flur entlang. »Der Mädchenschlafsaal ist rechts.«
In den nächsten vier Tagen schlief und duschte ich und ernährte mich von dem, was die Touristen in den Restaurants in der Columbus Avenue übrig ließen. Als meine Nächte in der Jugendherberge endeten, zog ich wieder in den Park, voller Angst vor dem zu groß geratenen Jungen und seinen zahlreichen Artgenossen, allerdings wohl wissend, dass mir nicht viel anderes übrigblieb. Ich pflegte meinen Garten und wartete auf das Wochenende.
Am Freitag blieb ich wach, da ich befürchtete, zu verschlafen und Renata zu verpassen. Die ganze Nacht wanderte ich durch die Straßen, und als ich müde wurde, ging ich vor dem Nachtclub am Fuße des Hügels auf und ab und ließ die Musik auf meinen zufallenden Augenlidern vibrieren. Als Renatas Laster erschien, lehnte ich wartend an der geschlossenen Glastür des Flora.
Renata bremste gerade so viel ab, dass ich in den Wagen springen konnte. Während ich die Tür schloss, setzte sie schon zum Wendemanöver an.
»Ich hätte dich schon um vier bestellen sollen«, erklärte sie. »Ich habe nicht in den Terminkalender geschaut. Wir brauchen heute Blumen für vierzig Tische. Allein die Brautjungfern und Trauzeugen sind insgesamt über fünfundzwanzig Personen. Wozu muss man zwölf Brautjungfern haben?« Ich konnte nicht feststellen, ob das eine rhetorische Frage war, und schwieg deshalb. »Wenn ich heiraten würde, hätte ich nicht einmal zwölf Gäste«, fügte sie hinzu. »Wenigstens nicht in diesem Land.«
Ich hätte keinen einzigen Gast, dachte ich. Weder in diesem Land noch in einem anderen. Am Kreisverkehr ging Renata vom Gas und verpasste diesmal die Ausfahrt nicht.
»Earl war im Laden«, meinte sie. »Ich soll dir ausrichten, dass seine Enkelin glücklich war – es sei ganz wichtig, dass ich ›glücklich‹ sage und kein anderes Wort benutze. Es liege daran, dass du etwas mit den Blumen gemacht hättest, meinte er.«
Lächelnd wandte ich mich von Renata ab und blickte aus dem Fenster. Also hatte er es nicht vergessen. Zu meiner Überraschung bereute ich es nicht, ihm mein Geheimnis verraten zu haben. Allerdings wollte ich es nicht mit Renata
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