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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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Kunstakademie im ganzen Land hätte sie aufgenommen. Doch sie wollte unsere Mutter nicht allein lassen.« Elizabeth hielt inne, und wir schauten beide zum Fenster hinauf. Das Sonnenlicht fing sich in den Wasserflecken und dem Staub auf der Scheibe, so dass ich nicht ins Zimmer hineinblicken konnte. »Sie ist jetzt dort drin«, fuhr Elizabeth fort. »Das weiß ich genau. Meinst du, sie hat unser Klopfen nicht gehört?«
    Wenn sie wirklich im Haus war, musste sie das Klopfen bemerkt haben. Das Haus hatte zwar zwei Stockwerke, war allerdings nicht groß. Aber als ich Elizabeths hoffnungsvollen Augenausdruck bemerkte, konnte ich ihr nicht die Wahrheit sagen. »Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Vielleicht.«
    »Catherine?«, rief Elizabeth. Das Fenster öffnete sich nicht, und ich konnte dahinter keine Bewegung erkennen. »Ob sie schläft?«
    »Lass uns einfach gehen«, sagte ich und zerrte an Elizabeths Ärmel.
    »Erst wenn wir wissen, ob sie uns gesehen hat. Falls sie uns sieht und trotzdem nicht herunterkommt, hat sie klargemacht, was sie empfindet.«
    Elizabeth drehte sich um und stieß ihren Fuß vor der ersten Blumenreihe in den Boden. Dann bückte sie sich und hob einen Stein auf. Er war rauh und etwa so groß wie eine Walnuss. Sie zielte auf das Fenster und warf den Stein mit einer sanften Bewegung. Er prallte vom Schindeldach des Giebels ab und landete wenige Schritte vor uns auf dem Boden. Sie griff wieder danach und versuchte es ein ums andere Mal. Ihre Treffsicherheit besserte sich nicht.
    Ungeduldig riss ich Elizabeth den Stein aus der Hand und schleuderte ihn in Richtung Fenster. Er traf sein Ziel, durchschlug die Glasscheibe wie eine Kugel und hinterließ ein formvollendet kreisrundes Loch. Als ich mich zu Elizabeth umdrehte, stellte ich fest, dass sie sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und die Augen geschlossen. »Oh, Victoria«, sagte sie bedrückt. »Zu fest. Viel, viel zu fest.«
    Elizabeth öffnete die Augen und hob das Gesicht zum Fenster. Ich folgte ihrem Blick. Drinnen erschien eine magere, blasse Hand. Finger schlossen sich um einen Kordelstrang. Im nächsten Moment senkte sich hinter der zerbrochenen Scheibe eine Jalousie herab. Elizabeth neben mir seufzte und starrte weiter zu der Stelle hinauf, wo die Hand gerade noch gewesen war.
    »Komm«, meinte ich, fasste Elizabeth am Ellbogen und drehte sie in Richtung Straße. Ihre Füße bewegten sich langsam, als wate sie durch Sand, während ich sie sanft zum Auto zog. Nachdem ich ihr in den Wagen geholfen hatte, wandte ich mich um und schloss das Tor.

5.
    E ine ganze Woche lang litt ich an Schlafmangel und war zu nichts zu gebrauchen. Da mein Fellfußboden tagelang nicht trocknete, spürte ich das Wasser durch mein Hemd wie Grants Hände, sobald ich mich hinlegte; es erinnerte mich ständig an seine Berührung. Im Schlaf träumte ich, die Kamera richte sich auf meine nackte Haut und finge meine Handgelenke, die Unterseite meines Kieferknochens und – einmal – meine Brustwarzen ein. Wenn ich die menschenleeren Straßen entlangschlenderte, hörte ich die Blende einer Kamera klicken und wirbelte herum, in der Erwartung, Grant würde nur wenige Schritte hinter mir stehen. Aber es war nie jemand da.
    Dass ich nicht in der Lage war, zusammenhängende Sätze zu bilden oder die Kasse zu bedienen, entging Renata nicht. Es war die Woche vor Thanksgiving, und im Laden wimmelte es von Kundschaft. Dennoch schickte Renata mich ins Hinterzimmer, wo sich von orangefarbenen und gelben Blüten strotzende Eimer und langstielige trockene Blätter in bunten Herbstfarben drängten. Sie gab mir zwar ein Buch mit Fotos von Feiertagsgestecken, doch ich schaute nicht hinein. Ich war zwar nicht ganz bei mir, aber Blumenarrangieren war etwas, das ich auch im Schlaf beherrschte. Also brachte sie mir Zettel mit hastig hingekritzelten Bestellungen und kam sie holen, wenn ich fertig war.
    Am Freitag, der Feiertagsansturm war vorbei, ließ Renata mich die Werkstatt fegen und den Tisch abschleifen, der nach jahrelanger Nutzung und aufgrund der vielen Wasserpfützen allmählich splittrig wurde. Als sie eine Stunde später nachsah, ob ich schon Fortschritte gemacht hatte, lag ich, bäuchlings und die Wange an das rauhe Holz geschmiegt, schlafend auf dem Tisch.
    Sie rüttelte mich wach. Ich hatte das Schmirgelpapier noch in der Hand. Seine Oberflächenstruktur hatte sich in meine Fingerspitzen eingegraben. »Wenn du nicht so gefragt

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