Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
Taschenbuch zutage. »Das ist ein Führer durch die Wildblumenwelt Nordamerikas, sortiert nach Farben. Die Primel sollte unter
Violett und Blau
stehen.« Sie reichte mir das Buch. Ich schlug
Violett und Blau
auf und blätterte, bis ich auf eine Zeichnung stieß, die der Blume entsprach. »Familie der Primelgewächse«, las ich. »Primulaceae.«
»Gut.« Elizabeth nahm die zweite der drei Blumen, groß, gelb und mit sechs spitzen Blütenblättern. »Jetzt die hier. Königslilie.«
Ich schlug unter
Gelb
nach und fand die passende Zeichnung. Ich zeigte mit einem noch feuchten Finger darauf und sah zu, wie sich ein Wasserfleck
ausbreitete. Elizabeth nickte.
»Und nun tun wir einmal so, als könntest du die Zeichnung nicht finden oder wärst nicht sicher, ob es die richtige ist. Dann musst du die einzelnen Teile der Blüte kennen. Einen Führer wie diesen zu benutzen ist, als lese man ein Abenteuerbuch, dessen Inhalt man selbst bestimmen kann. Am Anfang steht eine einfache Frage – hat deine Blume Blütenblätter? Wie viele? Und jede Antwort führt zu einer neuen Gruppe komplizierterer Fragen.«
Mit dem Küchenmesser schnitt Elizabeth die Lilie in der Mitte durch, so dass die Blütenblätter auf das Schneidebrett fielen. Sie wies auf den Furchtknoten und drückte meinen Finger auf die klebrige Narbe der Blüte.
Wir zählten Blütenblätter und beschrieben ihre Form. Elizabeth erklärte mir die Bedeutung von Symmetrie, den Unterschied zwischen untergeordneten und erhabenen Fruchtknoten und die verschiedenen Anordnungen von Blüten am Stengel. Anhand der dritten Blume, die sie gepflückt hatte, ein kleines, verwelkendes Veilchen, überprüfte sie, ob ich auch alles behalten hatte.
»Gut«, sagte sie wieder, nachdem ich dem unablässigen Strom an Fragen hatte richtig parieren können. »Sehr gut. Du lernst schnell.« Als sie meinen Stuhl zurückzog, rutschte ich hinunter. »Und jetzt geh und setz dich in den Garten, während ich das Abendessen koche. Verbringe ein wenig Zeit vor jeder Pflanze, die du kennst, und stell dir dieselben Fragen, die ich dir gestellt habe. Wie viele Blütenblätter, welche Farbe, welche Form? Woher weißt du, dass es eine Rose ist und keine Sonnenblume, wenn du sicher bist, dass du eine Rose vor dir hast?«
Elizabeth ratterte immer noch Fragen herunter, während ich schon zur Küchentür lief.
»Such etwas für Catherine aus!«, rief sie mir nach.
Ich rannte die Stufen hinunter.
13.
R enata war überrascht, mich am Straßenrand sitzen zu sehen, als sie ihren Laster um sieben Uhr in der menschenleeren Straße parkte. Ich war die ganze Nacht wach gewesen, was man mir auch ansah. Lächelnd zog sie die Augenbrauen hoch.
»Hast du etwa auf den Weihnachtsmann gewartet?«, meinte sie. »Hat dir denn nie jemand die Wahrheit gesagt?«
»Nein«, erwiderte ich. »Niemand.«
Ich folgte Renata in die Kühlkammer und half ihr, die Eimer mit roten Rosen, weißen Nelken und Schleierkraut herauszuholen. Diese Blumen mochte ich am wenigsten. »Ich hoffe, dass die Braut, die das verlangt hat, gefährlich ist.«
»Sie hat gedroht, mich anderenfalls zu ermorden«, entgegnete Renata. Wir teilten die Abneigung gegen rote Rosen.
Renata ging fort, und als sie mit zwei Kaffeebechern zurückkehrte, hatte ich bereits drei Tischgestecke fertig.
»Danke«, sagte ich und griff nach dem Pappbecher.
»Bitte sehr. Und mach langsamer. Je schneller wir hier fertig sind, desto mehr Zeit muss ich auf der Weihnachtsfeier meiner Mutter verbringen.«
Ich nahm eine Rose, entfernte im Zeitlupentempo die Dornen und reihte die scharfen Spitzen auf dem Tisch auf.
»Schon besser«, stellte Renata fest. »Aber noch immer nicht langsam genug.«
Obwohl wir den ganzen Vormittag nach Kräften herumtrödelten, hatten wir die Arbeit gegen Mittag beendet. Renata überprüfte den Bestellschein und kontrollierte mehrere Male, ob wir alles beisammenhatten. Dann legte sie die Liste weg.
»War’s das?«
»Ja«, antwortete sie. »Leider. Jetzt nur noch die Lieferung, dann die Weihnachtsfeier – du kommst mit.«
»Nein danke«, erwiderte ich, trank den letzten Rest kalten Kaffee und schulterte meinen Rucksack.
»Hat das geklungen, als hättest du eine andere Wahl? Hast du nämlich nicht.«
Ich hätte mich widersetzen können. Doch ich hatte das Gefühl, ihr für den Bonus etwas schuldig zu sein. Außerdem hatte ich zwar keine Lust auf Weihnachtsstimmung, dafür aber auf ein Weihnachtsessen. Ich kannte mich nicht mit der
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