Die verborgenen Bande des Herzens
soll’s, ist mir doch egal, wenn mich jetzt einer sieht. Ich beuge den Oberkörper nach vorn, um die Fußspitze in die neue Strumpfhose zu stecken, und prompt blockiert der Sicherheitsgurt. Ich habe keinen Platz, um mich richtig zu bewegen, und so gelingt es mir trotz aller Bemühungen nicht, die Strumpfhose so hochzuziehen, dass das Höschenteil perfekt sitzt. Das Rückenteil meines Kleids hat sich hochgeschoben, es bauscht sich zwischen der Lehne und meinem Rücken und wird ganz zerknittert.
Ich klappe die Sonnenblende herunter und betrachte mich in dem kleinen Spiegel auf der Rückseite. Mein Haar ist matt und strähnig von dem Nieselregen, und meine Wangen glühen von meinen Verrenkungen wegen der Strumpfhose. Ich hole meinen Kompaktpuder heraus, um die glänzenden Stellen im Gesicht abzudecken, ziehe die Lippen nach, aber es ist zu spät. Dieses schöne Gefühl, wieder lebendig zu sein, ist völlig verflogen. Ich muss daran denken, wie ich einmal eine Reportage über einen Boxer las, der kurz vor dem Weltmeisterschaftskampf stand. Er fühlte sich seinem Gegner gewachsen, war in bester Form und wollte diesen Kampf unbedingt gewinnen. Und dann, kurz bevor man ihn in den Ring führte, konnte sein Betreuerteam förmlich zusehen, wie sein Kampfgeist ihn verließ, aus ihm herausströmte wie die Luft aus einem Ballon. Als er schließlich im Ring stand, war er schon besiegt, noch ehe sein Gegner den ersten Schlag anbrachte. Genauso fühle ich mich im Moment. Besiegt.
Die Trommel des Russischen Roulettes dreht sich, und die Kammer mit den Tränen kommt gefährlich näher. Ich klappe den Spiegel hoch und schaue hinaus in die Dunkelheit.
»Die andere hat besser ausgesehen«, sagt Alex.
»Was?«
Er deutet kurz mit dem Kopf auf meine Beine, dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße.
»Die Farbe von der anderen Strumpfhose hat besser ausgesehen.«
Zuerst steht man in Grüppchen herum, Drinks werden gereicht. Diesen Teil hasse ich immer am meisten. Wenn man sich unter die Leute mischen, höflich Konversation machen muss. Doch heute Abend fliegen meine Blicke durch den Raum. Ist es die da, mit dem flammend roten Haar und der wohlproportionierten Figur? Oder die andere, die zierliche kleine Brünette, die so sexy mit dem Hintern wackelt? Oder … nein, die da ist es, die mit dem roten Kleid. Mein Gott, sie entspricht genau Alex’ Typ. Langes blondes Haar. Doch dann erblicke ich seine tatsächliche Geliebte. Zu meiner Überraschung ist sie nicht blond. Sie hat kurze kastanienbraune Locken und trägt, passend zu ihrem Kleid, orangerot schimmernden Lippenstift. Ich weiß, dass sie es ist, weil sie Alex durch den Raum einen Blick zuwirft und ihm ganz unauffällig zuwinkt, es ist eigentlich nur ein dezentes Bewegen der Finger, und dabei lächelt sie kurz und angespannt und überhaupt nicht selbstgefällig. Und sie ist die einzige Frau in dem ganzen Raum, die irgendein Interesse an mir zeigt. Sie schaut immer wieder her zu mir und dann von mir zu ihm. Ich bekomme mit, wie die beiden kurz einen Blick tauschen und dann gleich wieder woanders hinschauen. Immer wieder. Die ganze Zeit geht das so. Ja, was denn? Glaubt die denn, ich bin blöd? Glaubt die denn, ich merke es nicht?
Ich hasse ihr Selbstvertrauen. Ihr Selbstbewusstsein. Wenn ich sie wäre, würde ich in der entgegengesetzten Ecke des Raums bleiben, möglichst weit weg von mir. Doch sie kommt her. Sie kommt tatsächlich her, um mit mir zu reden. Beim Näherkommen taxiert sie mich. Ich weiß, sie registriert meine fette Taille, mein verknittertes Kleid. Meine Größe-44-Figur – auch wenn auf dem Etikett meines Kleids etwas anderes steht. Sie ist erleichtert. Sie denkt, sie kann es jederzeit mit mir aufnehmen, ich bin keine Konkurrenz für sie. Sie hängt sich in gespielter Freundschaft bei Alex ein.
»Hallo, Alex«, sagt sie, dann schaut sie mich an und zaubert ein breites, strahlendes Lächeln in ihr Gesicht. Sie liebt das Gefährliche dieser Situation, die Tatsache, dass sie und Alex hier kurz vor dem Abgrund stehen. Ich merke ihr an, dass es sie antörnt. Sie und Alex auf der einen Seite, ich auf der anderen.
»Hallo, ich bin Vicky«, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen. Alex nutzt die Gelegenheit, um sich aus ihrem Griff zu lösen.
»Vicky, das ist Carol Ann, meine Frau.«
»Sehr erfreut, Carol Ann. Ich arbeite viel mit Alex zusammen.«
»Ja, das glaube ich gern«, sage ich liebenswürdig, doch ich lasse in meiner Stimme einen kleinen
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