Die Verborgenen
vielleicht ein Wunder war.«
Bryans Hals krampfte sich zusammen. Traurigkeit mischte sich in das Chaos aus Enttäuschung und Wut. Wie hatten sie ihm das nur antun können?
»Ein Wunder? Willst du mich verarschen? «
Mike beugte seinen Kopf ein wenig vor – eine Geste, die besagte: Komm schon, denk mal ein bisschen darüber nach, dann verstehst du es. »Zwei Menschen, die total ineinander verliebt sind, aber keine Kinder haben können, und dann liegt ein Baby auf der Schwelle ihres Hauses? Welchen Beweis für ein Wunder brauchst du noch?«
Bryans Antwort war eine Mischung aus Krächzen und einem Schrei. »Wie wär’s, wenn Gott ganz einfach von Anfang an dafür gesorgt hätte, dass Mom Kinder bekam? Wäre das nicht ein viel logischeres Wunder , als einen Obdachlosen mit einem entführten Baby zu schicken?«
»Ich stelle die Wege des Herrn nicht infrage.«
»Das macht dich zwar fromm, aber gleichzeitig auch dumm. Was ist dann passiert? Habt ihr überall rumerzählt, ihr hättet nach einer unbefleckten Empfängnis eine ebenso unbefleckte Geburt hinter euch?«
Wieder senkte Mike den Kopf. »Wir verhielten uns absolut ruhig. In der Nacht, in der Eric dich bei uns abgab, versuchten wir, mit ihm zu reden, aber er faselte ununterbrochen davon, was die ihm antun würden, wenn er keinen Erfolg hätte.«
»Und wer waren die? «
»Das wollte er nicht sagen. In der Nacht darauf habe ich ihn aufgespürt.« Mike hielt inne. Er nahm einen Schluck Bier. »Eric war tot, Bryan. Ich glaube, er hatte irgendetwas genommen. Wir wussten nicht, was wir mit dir machen sollten. Deine Mutter und ich, wir lasen Zeitungen und sahen uns die Nachrichten im Fernsehen an. Wir hielten überall Ausschau nach irgendeinem Bericht über eine Entführung. Aber da war nichts.«
»Aber ihr seid immer noch nicht zur Polizei gegangen. Der Kidnapper war tot, irgendjemand hatte sein gottverdammtes Kind verloren, und du hast überhaupt nichts getan?«
Mike sah weg. »Nach dem zweiten Tag hatten deine Mutter und ich dich schon so sehr ins Herz geschlossen, dass wir alles riskiert hätten, um dich zu behalten. Es wäre anders gewesen, wenn wir gewusst hätten, wer deine Eltern waren, aber es gab nirgendwo irgendeine Nachricht. Schließlich sagten wir allen, dass deine Mutter im vierten Monat schwanger war. Ich schickte sie weg in eine Hütte im Yosemite. Wir erzählten allen, dass sie bei deiner Großmutter bleiben wollte, bis das Baby kommen würde.«
Bryan wollte Mike daran erinnern, dass die Frauen, über die er sprach, weder seine Mutter noch seine Großmutter waren, doch er sagte nichts.
Mike leerte die Bierflasche in einem langen Zug und stellte sie mit dem typischen Klirren von Glas auf Backstein neben sich ab. »Deine Mutter kam mit einem Baby nach Hause. So einfach war das. Die Nachbarn glaubten die Geschichte ohne Weiteres. Alle bemerkten, wie groß du für ein Neugeborenes warst, aber wir lachten nur und sagten, du würdest irgendwann für die ’Niners spielen und uns reich machen.«
Mike öffnete ein neues Bier. Er warf den Verschluss weg.
Wegen dieses Mannes würde Bryan wahrscheinlich niemals erfahren, wer seine richtigen Eltern waren. Zum ersten Mal im Leben spürte Bryan, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er blinzelte rasch, um sie zurückzudrängen.
»Und was ist mit meiner Geburtsurkunde?«
»Wenn man in Chinatown durchblicken lässt, dass man genügend dafür zahlen möchte, findet man auch einen Arzt, der mitspielt. Auf deiner Geburtsurkunde steht einfach nur, dass du in diesem Haus geboren wurdest und nicht in einer Klinik.«
»Ihr habt ein entführtes Kind bei euch behalten und einen Arzt bestochen. Welch vorbildliche Bürger. Was ist dann passiert?«
Wieder zuckte Mike mit den Schultern. »Das war’s. Wir haben dich geliebt. Du warst der Mittelpunkt unseres Lebens. Gott hat dich zu uns geführt, und wir haben uns jeden Tag darum bemüht, Gott zu zeigen, dass wir es wert waren.«
Bryan konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. » Du sollst nicht lügen. Schon mal davon gehört?«
Mikes Blick wurde so schmerzerfüllt wie zuvor. Sein Körper sackte in sich zusammen. Er hatte noch nie so alt ausgesehen.
»Wir wussten, dass es falsch war«, sagte er. »Aber nach einiger Zeit konnten wir dieses Wissen einfach beiseiteschieben. Wir haben nicht mehr darüber nachgedacht. Du warst unser Sohn .«
Mike Clauser war wie ein Fels gewesen: unverrückbar und zuverlässig. Immer hatte er den Dingen eine positive Seite
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