Die Verborgenen
hämmerte ihm in der Brust.
So nahe, so nahe …
Aggie sah das braune Zeichen in der weißen Decke und die weißen Buchstaben der Station CIVIC CENTER . Er warf einen Blick auf die Digitalanzeige, die das Eintreffen der nächsten U-Bahn ankündigte. Es war 23:15 Uhr.
Er zwang sich, auf die Rolltreppe, die ihn nach oben führen würde, zuzu gehen – nicht zu rennen. Obdachlose rannten nicht. Er musste nichts weiter tun, als diese Illusion aufrechtzuerhalten, dann würden ihn alle ignorieren. Illusion? Wie seltsam, dass er so über sich dachte. War er etwa kein Obdachloser?
Nein.
Nicht mehr.
Die Zeit in der Gosse lag hinter ihm. Aggie hatte Jahre verloren, in denen er trauerte, von Selbstmitleid geprägte Jahre, in denen er den Menschen und Dingen nachhing, die er verloren hatte. Er hatte aufgegeben und war aus allem ausgestiegen. Diese Zeit war vorbei.
Er war am Leben . Seine Frau und seine Tochter waren von ihm gegangen. Nichts konnte sie wieder zurückbringen. Er hätte in den Tunneln, hätte in der weißen Zelle sterben sollen, doch er hatte eine zweite Chance bekommen, und die würde er nicht vermasseln. Er trug jetzt Verantwortung, Verantwortung für das Kind, das er in seinen Armen hielt. Er hatte geschworen, ein Zuhause für dieses Kind zu finden.
Warum ziehe ich es nicht einfach selbst groß?
Aggie begriff, dass dieser Gedanke schon in seinem Hinterkopf steckte, seit er das erste Mal einen Blick in die Tasche geworfen und den winzigen Jungen gesehen hatte. Du warst einmal ein Vater. Ein guter Vater. Der Raubüberfall war nicht deine Schuld, es gab nichts, was du hättest tun können.
Eine zweite Chance. Eine zweite Chance, um alles richtig zu machen.
Aggie war voller Hoffnung. Plötzlich fühlte er eine überwältigende Liebe zum Leben in sich. Er ging auf die Rolltreppe zu, die ihn nach oben bringen würde.
Und dann schrie das Baby.
Es war kein leiser, gedämpfter Schrei, der Ich bin gerade aufgewacht zum Ausdruck bringen sollte, sondern ein energisches Brüllen, das besagte: Ich bin ÜBERHAUPT NICHT glücklich. Laut. Durchdringend. Die etwa ein Dutzend Menschen auf der Plattform, die sich bisher einige Mühe gegeben hatten, Aggie nicht anzusehen, drehten sich jetzt um und starrten ihn an.
Wieder schrie das Baby.
Der Junge hatte wahrscheinlich Hunger. Er war einfach nur ein Baby, das sich verhielt wie alle anderen auch, doch Aggie war klar, wie die Situation wirken musste: Die Leute sahen einen schäbigen, stinkenden Penner vor sich, der irgendwo unter seiner schmutzigen Decke ein schreiendes Kind versteckte.
Aggie erkannte, wie Hände in Taschen und Handtaschen verschwanden, und er sah die Handys, die in ihnen lagen, als sie wieder herauskamen.
Er drehte sich wieder in Richtung Rolltreppe.
Eine Frau trat ihm entgegen. »Halt!«
Aggie begann zu laufen. Seine relativ neuen Stiefel hämmerten in einem Stakkato-Rhythmus über die Metallstufen der Rolltreppe. Hinter sich hörte und fühlte er ein ähnliches Hämmern – die schweren Schritte mehrerer Männer.
Die erste Rolltreppe brachte ihn auf die Hauptebene der Station. Noch eine einzige Rolltreppe, dann wäre er draußen auf der Straße. Hier oben waren mehr Menschen. Sie kamen aus den Bars oder hatten so spät am Abend noch gearbeitet.
»Aus dem Weg!« Aggie rannte, während er die Baby-Tasche mit beiden Armen festhielt. Seine Beine fühlten sich schwach an. Er war bereits erschöpft.
»Haltet ihn auf!«, schrien die Männer hinter ihm. Die meisten Leute vor Aggie traten rasch beiseite, doch ein Mann – ein junger Mann, er konnte kaum älter als zwanzig sein – stellte sich ihm direkt in den Weg.
Aggie lief langsamer und versuchte, nach links auszuweichen.
Sein Fuß verfing sich in der Decke. Die Decke rutschte über den polierten Boden, und das Bein wurde unter ihm weggerissen. In der Sekunde, die es dauerte, bis er zu Boden stürzte, hatte er nur einen einzigen Gedanken: Er musste das Baby beschützen.
Aggies Hinterkopf schlug auf dem Marmor auf, und alles wurde schwarz.
Date-Nacht
D ie schwachen, aber schönen Klänge eines klimpernden Cembalos drangen aus Mamas Kajüte. Im Inneren gab es keine Lichter, nur Dunkelheit und Musik. Die Kreaturen hatten sich auf dem Zuschauersims versammelt. Sie hielten Fackeln in den Händen, die in der Dunkelheit der Höhle wie Sterne flackerten.
Rex stand allein auf dem zerstörten Schiffsdeck. Er hielt einen Weidenkorb in der Hand, in dem ein Geschenk für Mama lag. Heute Nacht würde er zum
Weitere Kostenlose Bücher