Die verbotene Geschichte: Roman (German Edition)
erzählte, wie er einmal ohne ausgebildeten Anästhesisten eine Schädeldecke hatte anbohren müssen. Gottlob, räumte er ein, war dies bislang der einzige Fall dieser Art.
Was hingegen mit einiger Regelmäßigkeit vorkam, waren diese Stromausfälle. Obwohl das St. Mary’s natürlich über einen Generator verfügte, blieb es bei andauernden Regenfällen nicht aus, dass das Team hin und wieder ohne Strom operieren musste. In solchen Notsituationen, sagte Lambert, konnte sich die Taschenlampenfunktion eines geladenen Handys als wahrer Segen erweisen. Katja beschloss, sich seinen Rat zu Herzen zu nehmen und während ihrer Schicht immer ein geladenes Handy dabeizuhaben. Noch war die Regenzeit nicht da, aber Katja ahnte bereits, wie unangenehm es werden würde, in der schwülen Hitze ohne Klimaanlage im OP zu stehen. Ihr Kittel war ja schon jetzt binnen zwei Stunden durchgeschwitzt.
Nach nur einem halben Arbeitstag entwickelte sie allmählich ein Gefühl dafür, welchen Herausforderungen sie sich würde stellen müssen, wenn sie nicht auf dem Absatz kehrtmachen wollte. Letzteres war ihr kurz durch den Sinn gegangen, als eine Frau sie ohne ersichtlichen Grund anschrie und mit dem Finger auf sie zeigte. Ging es dabei etwa wieder um ihre Familie? Katja schüttelte resigniert den Kopf. Wie konnte sie als Ärztin in dieser Klinik arbeiten, wenn die Einheimischen sie für verflucht hielten? Doch dann rief sie sich zur Ordnung. Sie war schließlich kein kleines Mädchen mehr, das bei der ersten Schwierigkeit weinend die Schaufel in den Sandkasten warf und davonlief. Außerdem machte sie auch ganz andere Erfahrungen. Allein wegen der zutraulichen Kinder lohnte es sich für Katja schon, hier zu sein. Ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren hatte sie sogar umarmt und ihr übers Haar gestreichelt, nachdem sie ihr mangels Erfahrung in Sachen Zahnmedizin mit Hilfe eines Lehrbuchs einen eitrigen Milchzahn gezogen hatte. Seit neuestem war sie nämlich auch Zahnärztin.
Auf der Visite am Nachmittag wies Lambert Katja endlich in ihren Bereich ein.
»Sie werden sich vor allem um die Behandlung von Krankheiten wie Tuberkulose, HIV, Lungenentzündungen, Malaria und Krebs kümmern. Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes oder Schlaganfall sind hier eher selten.«
Joy schloss sich an und erklärte ihr im Schnelldurchlauf, wie der Klinikalltag funktionierte.
»Das Bettzeug bringen die Verwandten der Patienten mit, die auch kochen, waschen und ihre Kranken pflegen. Die Angehörigen schlafen auf dem Boden.«
Sie deutete mit dem Daumen nach draußen. »Die Küche befindet sich im Hof, ist aber nur für die Kranken gedacht. Wenn Sie einen Tee oder einen Kaffee möchten – der Wasserkocher steht im Gang vor dem Schwesternzimmer. Für ein paar Kina holen Ihnen die Kinder etwas zu essen von der Bar gegenüber. Oder Sie treffen mit dem Besitzer eine Vereinbarung, falls die Kinder Sie nerven. Dann bringt er Ihnen was vorbei. Das ist natürlich schlecht für die Kinder, die dann wiederum einen Weg finden, Sie ihren Unmut spüren zu lassen.«
»Und was ist, wenn ich kein Fleisch …?« Joy ließ Katja nicht ausreden.
»Mehr Auswahl gibt es nicht. Das Essen ist ganz in Ordnung, Sie gewöhnen sich schon dran. Sie sind doch nicht etwa Vegetarierin?«
Joy schloss zu Lambert auf und kümmerte sich im weiteren Verlauf der Visite nicht mehr um Katja. Die blieb kurz stehen, schaute sich um und schüttelte den Kopf. Das alles für 800 Euro Monatsgehalt, die Giftspritze Joy inklusive. Obwohl sie die Nachteile klar erkannte, fühlte sie sich seltsam gut. Besser zumindest als all die Zeit davor.
Katja setzte sich in Bewegung, um den anderen zu folgen.
Auf der chirurgischen Abteilung angekommen, schüttelte Lambert einem kleinen Jungen die Hand, der mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett saß. Über den Bettrand hingen mit Wasser gefüllte Plastikflaschen herab.
»Für Oberschenkelbrüche sind eigentlich Colaflaschen besser geeignet«, erklärte Lambert Katja. »Keine Ahnung warum, aber die halten länger. Eigentlich hätte ich dem Kleinen eine Metallplatte einsetzen müssen, aber über solche Materialien verfügen wir in Vunapope nun mal nicht.«
»Wie haben Sie die Fraktur denn stattdessen versorgt?«, fragte Katja interessiert.
»Ich hab ihm einen Nagel unterhalb des Knies gesetzt, um den Oberschenkel zu strecken.« Lambert machte eine Bewegung, als hämmere er einen Nagel in die Wand. Katja verzog kurz das Gesicht. Sie sah
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