Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
einmal daran erinnert werden, dass diese Merkmale zur Bestimmung der Kanonizität eines Werkes erst vorlagen, nachdem sich bereits durch den Gebrauch, aber auch durch die Ablehnung bestimmter Schriften, ein Kanon herausgebildet hatte. Sie stellen somit die nachträgliche Erklärung und Rechtfertigung eines Status quo dar.
Der größte Wert wurde auf die Apostolizität gelegt, wobei man auch noch Verfasser der 2. und 3. Generation, die direkten Kontakt zu einem Apostel hatten, als apostolisch bezeichnete. Es stand allerdings nicht so sehr die historische Abhängigkeit im Vordergrund, sondern die inhaltliche Apostolizität, d. h. es musste sich ein direkter Bezug zur Heilsverkündigung der Urkirche nachweisen lassen. Im Mittelpunkt stand die Überlieferung des einen und wahren Glaubens.
Mit der Apostolizität war eng das Alter einer Schrift verbunden. Durch dieses sah man nicht nur die historische Nähe zur Lehre Jesu gewährleistet, sondern vielmehr noch die inhaltliche Nähe. Je größer der zeitliche Abstand zum Leben Jesu wurde, desto wichtiger wurde das Alter einer Schrift. Im Westen wurde darauf noch mehr Wert gelegt als im Osten. Bezeichnend ist,dass das Hauptargument bezüglich der Verwerfung von Apokryphen oftmals deren unzureichendes Alter war. Sie galten als zu jung und neu, um authentisches Zeugnis des Lehrens Jesu sein zu können. Mit dieser Begründung lehnte Irenäus das Evangelium Veritatis ab. Dem Thomasevangelium erging es nicht anders, und auch der Hirt des Hermas galt dem Schreiber des Muratorischen Canons wegen seiner Abfassungszeit als nicht kanonisch. Zu dieser Begründung gesellte sich natürlich noch in vielen Fällen der Vorwurf, die wahre Lehre verfälscht zu haben. Wie wichtig jedoch das Zeit-Argument war, lässt sich am Verhalten vieler Schreiber apokrypher Schriften aufzeigen. Um ihnen Geltung zu verschaffen, wurden die Schriften unter dem Namen eines Apostels herausgegeben.
Ein weiterer Punkt, auf den geachtet wurde, war die Geschichtlichkeit. Was überliefert wurde, durfte kein Mythos, keine Phantasterei und keine Erdichtung des Autors sein, sondern musste die historischen Begebenheiten wiedergeben. Dieser Ansatz findet sich bereits im Lukasevangelium. Lukas möchte, dass sein Adressat Theophilus sich ein eigenes Urteil über die Ereignisse in Galiläa und Jerusalem bilden soll. Die Geschichtsschreibung dient ihm dazu als Mittel. Den Apokryphen wird von den kirchlichen Theologen zum Teil vorgeworfen, sie seien Erdichtungen und nicht wahr. Der Canon Muratori lehnt aus diesem Grund den Alexandriner- und Laodizenerbrief ab. Epiphanius von Salamis, ein Theologe des 4. Jahrhunderts, verwirft mit dieser Begründung das Philippusevangelium, Irenäus das Judasevangelium, Tertullian die Paulusakten, Hippolyt die gesamte Matthias-Tradition, um nur einige Beispiele zu nennen. Umgekehrt gibt es aber auch Gruppen, die die später kanonisierte Johannesapokalypse und das Johannesevangelium wegen ungeschichtlicher Momente ablehnen. Für das Johannesevangelium machen sie z. B. geltend, dass darin sofort von der Menschwerdung Jesu zur Geschichte der kanaanäischen Hochzeit übergegangen würde, dass es im Gegensatz zu den anderen Evangelien in ihm zwei Paschafeste gebe. Hieran wird deutlich, dass dieses Argument willkürlicher Natur ist, denn einer Schrift, die der eigenen Vorstellung des geschichtlichen Geschehens nicht entsprach, war schnell der Vorwurf des Phantasierens und Fabulierens gemacht. Was letztlich als wahr und geschichtlich betrachtet wurde, war mehr eine Frage der Macht, die eigene Vorstellung durchzusetzen.
Daneben spielte die Übereinstimmung der neu entstandenen Werke mit der „Schrift“, dem Alten Testament eine Rolle. Es galt dem Christentum immer noch als Autorität, wenn es nun auch unter christologischem Aspekt betrachtet wurde. Alle Verheißungen und Weissagungen des Alten Testaments wurden auf Jesus hin interpretiert. Eine Verwerfung, Ablehnung oder Vernachlässigung des Alten Testaments galt als Hinweis auf häretische Schriften, die keinesfalls Geltung erlangen durften. Ferner mussten die Werke, wollten sie kanonisch sein, mit den Aussagen der apostolischen Väter übereinstimmen. Ein weiterer Versuch, die Ursprünglichkeit der jesuanischen Lehre zu sichern.
Ein weiteres Kriterium war die Erbaulichkeit der Werke, auf die sehr geachtet wurde. Für erbaulich wurde eine für das Leben der Christen lehrreiche Schrift gehalten, die auch für die entstehende Kirche einen
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