Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
Teil auch war, und damit vor Angriffen, die diese eigene, sich von der Großkirche unterscheidende, Glaubenspraxis betraf zu schützen. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass sich zwar im 2. Jahrhundert die Kanonisierung bestimmter Schriften abzeichnete, diese aber noch nicht abgeschlossen war. Im Zusammenhang mit der Ergänzung bestehender, später kanonisierter Schriften, bedeutete dies, dass durchaus Raum für Ergänzungen war, da eben noch keine überall verbindliche Lehre existierte, die darüber entschied, was rechtgläubig war und was nicht. Erst nach Abschluss der Kanonisierung und Durchsetzung der Verbindlichkeit des Kanons konnten diese Schriften als nicht mit der Tradition der Großkirche übereinstimmend abgelehnt und verboten werden. Innerhalb des Schrifttums der Apokryphen lässt sich mit der verbindlichen Fixierung des Kanons ein Umschwung feststellen. Die nun verfassten Schriften trugen deutliche Züge der Lehre und Anschauungen der jeweiligen Gruppen, die diese erstellten und nutzten. Sie dienten zur Ausbreitung und Rechtfertigung der jeweiligen Sondermeinungen und Ansichten, die sich zum Teil erheblich von denen der Kirche unterschieden.
Neben dem Ergänzungsmotiv spielte aber auch die Sicherung der eigenen Tradition einer Gemeinde neben der kanonisierten oder im Kanonisierungsprozess befindlichen Tradition eine erhebliche Rolle. Es sei hier nur noch einmal auf die Petrus-, Thomas- und Johannestradition in Syrien verwiesen. Oftmals hatte die Person, auf die man sich berief, eine ungeheure Autorität, da man sie direkt mit dem Jüngerkreis Jesu in Verbindung brachte. Es galt, diese mündliche Tradition zu sichern, indem man sie schriftlich fixierte. Diese Fixierung fand ihren Niederschlag in den verschiedensten literarischen Formen, wie ja bereits erwähnt wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Geschichte der Thomastradition in Ostsyrien. Der Apostel Thomas wurde als Begründer der dortigen Gemeinde verehrt. Das ihm zugeschriebene Evangelium will die „verborgenen Worte“ Jesu überliefern. Dazu sammelte der Verfasser 114 Sprüche. Von Bedeutung ist hierbei, dass sich die eine Hälfte der Sprüche auch bei den Synoptikern, aber auch bei Johannes finden lässt, die andere jedoch aus zum Teil völlig unbekannten Texten besteht. Wahrscheinlich benutzte der Verfasser für die Sprüche eine ähnliche Quelle wie die Synoptiker, ohne diese selbstoder die Synoptiker als direkte Vorlage verwendet zu haben. Damit würden Teile des Evangeliums auf eine gleich alte Tradition von Jesusworten zurückgreifen wie die Synoptiker und damit Anspruch auf Authentizität erheben können. Bezeichnend für das Thomas-Christentum war seine synkretistische Neigung, d. h. seine Vorliebe, verschiedene Lehren und Traditionen in sich aufzunehmen. Die später als rechtgläubig bezeichnete Gruppe war im 2. und 3. Jahrhundert in Edessa, dem Zentrum des ostsyrischen Christentums, eine Minderheit. Neben den Christen, die der Thomastradition verbunden waren, spielte der Manichäismus, jene synkretistische Bewegung Persiens, welche Elemente der verschiedensten Religionen in sich vereinte, die entscheidende Rolle in Edessa. Erst mit der Hinwendung vieler Christen zum Manichäismus konnte sich die westlich geprägte Strömung der christlichen Orthodoxie in Ostsyrien durchsetzen. In diesem Moment entstand eine neue apostolische Tradition. Auf einmal war nicht mehr Thomas der Gründer der ostsyrischen Gemeinde, sondern der Apostel Thaddhäus, der von eben jenem Thomas zur Verkündigung des Glaubens nach Edessa geschickt worden sein soll. Diese Theorie konnte sich in der Kirche schnell durchsetzen, obwohl sie eine bloße Erfindung war. Dazu trug maßgeblich die Verbreitung der Abgarsage bei, die zu dieser Zeit entstand und eine Propagandaschrift der rechtgläubigen Christen gegen den Manichäismus darstellte. Mit dem Zurückdrängen der Thomas-Christen verloren auch ihre Schriften an Bedeutung. Das Thomasevangelium galt als häretisch.
Der Grund der Nicht-Kanonisierung bestimmter Schriften lag nicht immer nur darin, dass das Gedankengut als gnostisch oder häretisch betrachtet wurde, manchmal hatte die entsprechende Gruppe einfach nicht die Macht und den Einfluss, um sich und ihr Schrifftum in der Großkirche durchzusetzen. Dies galt beispielsweise für die judenchristlich geprägte Petrustradition Westsyriens, die in scharfem Kontrast zum paulinischen Christentum stand. Von ihren Schriften übernahm die
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