Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
wissen, wer Marias Eltern waren, was sie taten, wie Maria aufwuchs
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Daneben galt es, Angriffe aus dem Judentum, die sich auf die Abstammung Jesu bezogen, abzuwehren und ihn als Nachkommen Davids und damit als Messias zu erweisen. Auch musste man verständlich erklären, woher die Brüder Jesu, von denen bei Markus (Mk 3,31–35) die Rede ist, kamen. Die Antwort, die etwa das Protevangelium des Jakobus zu diesen beiden Problemen beisteuert, besteht zum einen darin, auch Marias Abstammung von David zu behaupten, zum anderen aber darin, die Brüder Jesu als Josef Kinder aus erster Ehe darzustellen
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Bei diesem ursprünglich auf Griechisch verfassten Protevangelium des Jakobus handelt es sich wohl um das am häufigsten übersetzte und überlieferte apokryphe Evangelium. Der Titel, der sich heute eingebürgert hat, ist eine nachträgliche Bezeichnung aus dem 16. Jahrhundert, die auf den französischen Humanisten Guillaume Postel zurückgeht. Protevangelium, also „erstes Evangelium“, wurde es deshalb genannt, weil es das erzählt, was „zuerst“ geschehen ist, nämlich vor dem, was die kanonischen Evangelien berichten. Weil aber bei Markus eine Kindheitsgeschichte fehlt, hielt man das Protevangelium für dessen Einleitung. Auf die älteste überlieferte Handschrift aus dem 3. oder 4. Jahrhundert trifft diese Zuschreibung aber keineswegs zu. Hier ist das Evangelium mit“ Geburt der Maria. Offenbarung des Jakobus“ überschrieben
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Das Protevangelium des Jakobus wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, ins Syrische, Georgische, Armenische, Lateinische und Slawische, aber auch ins Koptische, Arabische und Äthiopische. Und wenn man von der Anzahl der Fassungen in einer Sprache auf die Beliebtheit einer Schrift schließen kann, so machen die allein 169 slawischen Fassungen das große Interesse am Protevangelium mehr als deutlich
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Die kirchliche Tradition hielt den Herrenbruder Jakobus für den Verfasser dieses Werkes. Doch da der Autor die Kindheitsgeschichten der Synoptiker voraussetzte, war er sicher kein Zeitzeuge Jesu, und das Evangelium wird in seinem Grundbestand kaum vor 150 n. Chr. entstanden sein. Da aber andererseits offensichtlich der Kanon des Neuen Testaments bei Abfassung des Werkes noch nicht endgültig abgeschlossen war, wird es auch nicht sehr viel später entstanden sein, zumal es Clemens von Alexandrien (gest. 215 n. Chr.) und Origenes (gest. 250 n. Chr.) bereits kannten
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Der Abfassungsort des Protevangeliums kann nicht mit absoluter Sicherheit ermittelt werden, aber einige Hinweise, so etwa die fehlenden Kenntnisse der geographischen Verhältnisse Palästinas sowie der jüdischen Vorschriften und Gepflogenheiten, sprechen für eine Entstehung außerhalb Palästinas. Möglicherweise wurde es in Ägypten geschrieben
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Das Evangelium ist nicht nur als Vorgeschichte lesenswert, sondern auch aufgrund der erzählerischen Eigenart dieses liebevoll gestalteten Sammelwerkes. Sein Verfasser griff darin auf zahlreiche Traditionen zurück, die ihm Aufschluss über die Vorgeschichte Jesu gaben. Es sind dies zum einen schriftliche Quellen, allen voran die Kindheitsgeschichten der Evangelien nach Matthäus und Lukas, aber auch das griechische Alte Testament, das sich geradezu sprachbildend auf das Evangelium nach Jakobus ausgewirkt hat. Daneben benützte der Verfasser mündliche Überlieferungen, die vor allemlegendarischen Stoff über Josef und Maria geboten haben. Aus dieser sehr lebendigen Tradition bezog er auch einige besondere Einzelmotive, wie beispielsweise die Episode von der Hebamme (Kap. 18–20) oder die Höhle als Geburtsort Jesu (18,1). Verglichen mit den anderen Kindheitsevangelien zeichnet sich das Protevangelium des Jakobus allgemein durch eine sehr zurückhaltende Art der Erzählung aus, die auf Sensationen und Derbheiten weitgehend verzichtet
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Die Wirkungsgeschichte des Protevangelium des Jakobus verlief im Osten und Westen unterschiedlich, obwohl es in beiden Teilen der Kirche äußerst beliebt war. In der Westkirche wurde es offiziell verboten, im Osten fand es sogar einen Platz in der Liturgie
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Im Protevangelium des Jakobus tritt insbesondere die Person Marias, ihre Herkunft und Familie in den Vordergrund. Es gibt damit Einblick in die zeitgenössische Marienverehrung und die ihr zugrunde liegende Volksfrömmigkeit der ersten beiden Jahrhunderte. Aber es hatte dadurch auch eine großartige Wirkung auf die spätere Frömmigkeit, auf die christliche Kunst, die Ausgestaltung des
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