Die Verbrechen von Frankfurt. Frevlerhand
machte sie noch einmal «Hmm». Pater Nau blickte verständnislos von Alter zu Gustelies.
«Worüber sprecht ihr da?», wollte er wissen, doch er bekam keine Antwort.
Stattdessen sprach Gustelies weiter. «Die Einzigen, für die der Krieg eine Katastrophe ist, das sind die Frauen und die Kinder. Sie bleiben allein zurück, und wenn ihre Männer eines Tages wieder nach Hause kommen, dann sind sie alt und ihrer Träume verlustig gegangen. Ein großer Mann sagte einmal: ‹Der Krieg hat einen langen Arm. Noch lange, nachdem er vorbei ist, holt er sich seine Opfer.›»
Der Novize drehte sich um. «Nicht nur die Weiber leiden, auch die Männer. Sie zahlen mit ihrem Leben, mit ihrer Gesundheit. Und auch mit ihren Träumen. Denn wie viele kommen zurück und stellen fest, dass ihre Weiber in anderen Händen sind? Dass ihr Haus verkauft, ihre Werkstatt geschlossen ist? Ich denke, der Krieg hat zwei Gesichter. Ein Gesicht, bei dem Geld fließt. Und die Kehrseite davon, die Seite der Tränen. Und die gilt für Männer und Frauen.»
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Kapitel 37
D er Retter war mitten unter Leuten. Leute, die mit ihm sprachen, denen er antworten musste und denen er nicht verraten durfte, wie es wirklich in ihm aussah. Er bewegte die Lippen, nickte, neigte den Kopf, und einmal lächelte er sogar. Er tat das alles wie eine Marionette. Denn in seinem Inneren sah es anders aus. In seinem Inneren, da war kein Lächeln, da gab es keine Antworten, da waren nur die Schwärze und ein unbändiger Schmerz, der ihm beinahe den Atem nahm.
Die Leute, sie sind so gutgläubig, sie meinen, sie hätten die Dinge in der Hand, dachte er. Es ist schlimm, einsam zu sein. So einsam wie einst Kassandra, die Seherin, die in die Zukunft schauen konnte und der niemand glaubte. So fühlte sich der Retter. Alles, was er bisher in seinem Leben an Worten verbraucht hatte, war unnütz gewesen. Niemand hörte ihn. Keiner verstand. Einmal hatte er im Feld einen alten Medicus getroffen. Der war wie er gewesen. Nur alt. Müde. Zu Tode erschöpft.
«Ich kann dir nicht helfen», hatte er gesagt. «Die Menschen lassen sich nicht aufrütteln. Sie lernen nicht. Niemals. Und so wird es immer Krieg geben. Ganz gleich, was du oder ich dagegen tun wollen. ‹Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen›, sagte Plato.»
Und der Retter hatte dem alten Mann nicht glauben wollen. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, dass der Krieg alles Schöne zerstörte. Dass er Leid brachte und endlosen Kummer und Sorgen.
Aber es war so. Vier Frauen hatte er retten können vor dem Elend. Vier Frauen waren durch seine Hilfe in den Himmel gekommen, waren schön geblieben, mit leuchtenden Wangen und nach oben geschwungenen Mündern. Und nur zwei von ihnen hatten den Himmel auch verdient. Aber es gab noch so viele mehr, die gerettet werden mussten. Und er war so müde. So müde wie der alte Medicus im Feld. Und er begriff, dass es unmöglich war, sie alle zu retten.
Er durfte seiner Müdigkeit nicht nachgeben. Eine musste er noch retten. Und vielleicht konnte er sich dann selbst zur Ruhe begeben, konnte eintauchen in die himmlische Schönheit, die Reinheit.
Er hatte das Mädchen gestern gesehen. Ihr Liebster war zu den Werbern gegangen, hatte sich ein Säckchen mit Geld geholt und es dem Mädchen gegeben. Aber sie hatte es nicht genommen, sondern ihm das Geld ins Gesicht geschlagen. «Was soll ich damit?», hatte sie geschrien, während ihr die Tränen über die Wangen rannen. «Ich brauche kein Geld. Ich brauche dich, verstehst du das nicht? Ich würde überall hingehen mit dir, nur, damit wir zusammen sind.» Und dann war sie mit dem Rücken an der Hauswand hinabgerutscht, hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und geschluchzt, dass ihre Schultern bebten. Und der Liebste hatte dagestanden mit seinem Geldsäckchen und hatte auf das Mädchen geschaut. Er hatte die Hand gehoben, als wolle er ihr über das Haar streichen, eine hilflose Geste nur, aber wenigstens eine Geste. Doch dann hatte er seine Hand zurückgezogen, hatte nur ein Kreuz geschlagen über der Liebsten und war dem Werber nach draußen ins Heerlager gefolgt. Und der Retter hatte auf den Stufen einer Kirche gesessen und das Mädchen beobachtet. Sie konnte sich lange nicht beruhigen. Aber irgendwann war sie aufgestanden und davongegangen, davongetaumelt, weil der Schmerz ihr die Beine wegriss. Es war schon spät gewesen, nach dem Vesperläuten, und die Frankfurter waren auf dem Weg nach Hause oder
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