Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
Dächer, schmiegten sich um die Türme der Wachen und vermischten sich mit dem Rauch, der aus den zahlreichen Schornsteinen aufstieg. Darunter kreisten ein paar Raben und erfüllten die Luft mit lautem Krächzen.
«Und?», fragte Richter Heinz Blettner die beiden Stadtbüttel. «Habt ihr etwas gefunden?»
«Nein, Herr.»
«Dann sucht, bis ihr etwas findet.»
Er seufzte laut auf und besah sich den Boden zu seinen Füßen. Der Uferbereich, an dem die Leiche in der Nacht geborgen worden war, war völlig zertreten. Es war unmöglich, einzelne Fußspuren auszumachen. Auch das Gras, ohnehin spärlich durch die Schneelast der letzten Wochen, war niedergetreten.
Blettner holte einen Hornkamm aus seiner Wamstasche. «Büttel», rief er.
Der Mann kam, und Blettner reichte ihm den Kamm. «Hier, nimm das und dreh damit jeden Grashalm um. Es muss etwas zu finden sein. Irgendwas. Ganz gleich. Und wenn du einen verdächtigen Fleck siehst, dann sag Bescheid.»
Der Büttel besah missmutig den Kamm, während Richter Blettner, eine Hand am Kinn, auf und ab ging und dabei vor sich hin murmelte. «Was in aller Welt sollte die Leiche am Main? Nirgendwo ist Blut. Er wird ihr also nicht hier das Herz und das Kind aus dem Leib gerissen haben. Tatort und Fundort sind somit nicht identisch. Hat er die Leiche am Ufer abgelegt, damit sie gefunden wird? Oder wollte er sie mit einem Nachen wegschaffen und ist dabei gestört worden? Wem gehören eigentlich die Kähne hier am Ufer?»
Blettner sah auf und winkte den Schreiber zu sich. «Die Kähne hier, die Fischerkähne. Sind die vollständig, oder fehlt da einer? Wem gehören die überhaupt?»
Der Schreiber zuckte mit den Achseln. «Woher soll ich das wissen, Herr?»
«Dann geh und finde es heraus.»
Der Schreiber nickte und kam wenig später mit einem Fischer zurück.
Der stellte sich ans Ufer, kratzte sich am Kopf und überlegte. «Und?», wollte Richter Blettner wissen.
«Einer fehlt. Der Kahn vom Krebsfischer Simon. Aber der Simon ist gestorben vor ein paar Wochen. Kann sein, dass die Witwe den Kahn aus dem Wasser geholt hat. Getaugt hat er nichts, da war ein riesiges Loch im Boden. So groß, dass alles Pech der Welt es nicht stopfen konnte.»
«Aha. Außer Simons Kahn fehlt nichts. Alle anderen Boote kennst du, oder?»
«Ganz recht, Herr.»
Blettner wandte sich ab. Ihm war kalt. Er hatte Hunger und Durst und das dringende Bedürfnis, nach Hause zu gehen und nach seiner schwangeren Frau zu sehen. Er wollte einfach nur wissen, ob es ihr gutging. Sie sollte mit ihm schimpfen, ihn für die dreckigen Sachen rügen, sich über die Schmutzspuren seiner Schuhe aufregen, ganz egal, nur da sein sollte sie. Da und gesund sein.
«Ich gehe», erklärte Blettner einem Büttel. «Komm nach dem Mittag ins Malefizamt und berichte mir, was ihr gefunden habt. Und seht euch auch die Kähne an. Achtet auf Blut und auf Dinge, die nicht in ein Boot gehören. Hast du mich verstanden?»
«Ja, Herr.»
Blettner nickte, zog die Schultern hoch und marschierte zum Römer hinauf.
An der Geldwechselstube stieß er auf seine Schwiegermutter.
«Und?», fragte Gustelies mit blitzenden Augen. «Was ist geschehen? Sag schon!»
Richter Blettner sah nachdenklich zwischen Jutta und Gustelies hin und her. Dann entschied er sich, seinen eigenen Anweisungen
zuwiderzuhandeln.
«Eine junge Frau. Am Ufer. Tot. Ausgeweidet. Sie war schwanger. Das Kind ist ihr aus dem Leib geschnitten worden.»
Gustelies schrie auf und presste sich eine Hand vor den Mund.
Der Richter trat dicht an sie heran. «Das ist alles, mehr weiß ich noch nicht. Aber ich bitte dich bei den Gebeinen der heiligen Hildegard: kein Wort zu Hella. Und pass ab jetzt auf sie auf. Sie sollte keinen Fuß mehr allein vor die Tür setzen.»
Gustelies nickte. Ihr Gesicht war blass geworden.
«Wer ist sie denn?», wollte Jutta Hinterer wissen. «Die Tote, meine ich.»
«Ich habe keine Ahnung», erklärte Blettner. «Niemand kennt sie. Sie ist keine Magd, keine Handwerkerin mit typischen Handwerkerhänden, keine Patrizierin und wohl auch keine Nonne. Ich muss schauen, wer im Malefizamt als vermisst gemeldet wurde.»
Er hob die Hand zum Gruß und schlurfte über den Platz hinüber zum Amt.
Die beiden Frauen sahen ihm nach. «Keine Magd, keine Handwerkerin, keine Nonne, keine Patrizierin», überlegte Jutta Hinterer laut. «Und von uns Geldwechslerinnen fehlt auch keine. Wer war sie?»
«Ja. Das ist die Frage», entgegnete Gustelies. «Wer war die
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