Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
von mir, denn meine Tage sind eitel.
Was ist ein Mensch, dass du ihn groß achtest und bekümmerst dich um ihn?
Du suchst ihn täglich heim und versuchst ihn alle Stunden.
Warum tust du dich nicht von mir und lässest mich nicht, bis ich nur meinen Speichel schlinge?
Habe ich gesündigt, was tue ich dir damit, o du Menschenhüter? Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, dass ich mir selbst eine Last bin?
Und warum vergibst du mir meine Missetat nicht und nimmst weg meine Sünde? Denn nun werde ich mich in die Erde legen, und wenn du mich morgen suchst, werde ich nicht da sein.»
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Kapitel 17
D er nächste Tag begann wie jeder Montag in der Reichsstadt. Mit einem Unterschied: Zum ersten Mal seit Wochen schien die Sonne so hell vom Himmel, als trüge sie ein Marienkleid. Die Menschen eilten auf die Gassen und hielten ihre winterblassen Gesichter ins Licht. Die ersten Vögel schrillten, als müssten sie ein ganzes Jahr Lärm nachholen. Katzen rekelten sich träge, und die frühen Mägde, die mit Eimern zum Brunnen liefen, sangen.
Hella stand ebenfalls in der Haustür und blinzelte in das Himmelsblau, als sie behutsam angestoßen wurde.
«Gelobt sei Jesus Christus.»
«In Ewigkeit, amen. Ach, Bruder Göck, was treibt Ihr so früh am Morgen schon?»
Bruder Göck sah aus, als hätte er die Nacht schlaflos verbracht. Er stöhnte und rieb sich die Knie. Dann deutete er auf seine Kutte. «Ich kann unmöglich in der Kluft der Antoniter ins Freudenhaus gehen. Der Richter muss mich einkleiden.» Er sah so grimmig aus wie ein Novembertag. «Und denkt ja nicht, dass es mir Spaß macht, wie ein Geck herumzulaufen. Die ganze Nacht habe ich unseren Herrn um Vergebung gebeten. Und wäre die Nächstenliebe nicht so heilig, ich schwöre beim heiligen Antonius, ich säße jetzt in meinem Kloster und hätte nichts mit alldem hier zu schaffen. Also, ist der Eure da? Hat er ein Beinkleid und ein Wams für mich?»
Hella unterdrückte ein Kichern. «Geht hinein, Bruder Göck, und ruft nach ihm. Er wird sich Eurer annehmen.»
Der Antoniter sah sich nach allen Seiten um.
«Ist noch was?», wollte Hella wissen.
«Hat der Eure … hat er vielleicht einen Umhang mit Kapuze? Oder einen großen Hut?»
«Wozu braucht Ihr so etwas?»
Bruder Göck verzog empört den Mund. «Mein Gesicht muss verdeckt sein. Was meint Ihr, was geschieht, wenn mich jemand erkennt? Ich könnte meinen Brüdern niemals mehr in die Augen schauen.»
Bei dieser Vorstellung musste Hella laut auflachen. «Der Meine hat sowohl Umhang als auch Hut. Wie wäre es, wenn Ihr Euch dazu noch ein Tuch bis über die Nase zieht? Tut so, als wäret Ihr schlimm erkältet.»
Bruder Göck brummte noch einmal, dann betrat er das Haus.
Hella schlenderte die Straße hinab, grüßte freundlich nach allen Seiten, weil sie so beschwingt war vom Wetter, von der Aussicht auf Frühling und von der Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde. Ihr unerschütterlicher Glaube daran, dass letztendlich das Gute siegte, ließ sie keinen Augenblick daran zweifeln, dass Pater Nau bald wieder im Pfarrhaus anzutreffen wäre. Es würde keine toten Frauen mehr geben, und sie könnte ganz in Ruhe darüber nachsinnen, welcher Vorname für ihr Kind der passende wäre.
Sophia?, überlegte sie und schüttelte dann den Kopf. Hildegard, nach der Lieblingsheiligen ihrer Mutter? Oder besser Elisabeth wie die von Thüringen? Christine? Und wenn sie einen Jungen zur Welt brachte? Vielleicht Christian? Christian Blettner. Blettner, Christian. Oder Raimund. Nein, damit wäre Heinz nicht einverstanden. Matthias? Michael? Markus? Noch ehe Hella eine Entscheidung treffen konnte, war sie bereits vor dem Seifensiederhaus angelangt. Sie klopfte.
Schlurfende Schritte näherten sich der Tür. Hella schrak zurück, als die Seifensiederin vor ihr stand. Die Frau schien innerhalb weniger Tage um Jahre gealtert. Die Arme hingen wie Stöcke neben ihrem Körper, der Hals schien zu dünn, um den Kopf zu tragen. Wirres Haar lugte unter ihrer Haube hervor. Das Mieder war nachlässig geschlossen, auf dem Brusttuch prangte ein großer Fleck.
«Gelobt sei Jesus Christus, Seifensiederin.»
«Wir haben nichts mehr zu verkaufen», murmelte die Frau mit kraftloser Stimme und wollte Hella die Tür vor der Nase zuschlagen.
«So wartet doch!» Hella stellte einen Fuß auf die Schwelle. «Ich komme nicht wegen Seife, gute Frau. Wissen wollte ich, wie es der Lilo geht. Hat sie sich wieder
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