Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
Engel, dass Heinz sie bald finden möge. Ihr war so unbehaglich zumute, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Alles, was bei Tag so unschuldig war, wirkte hier im Wald beängstigend. Links und rechts, vorn und hinten, ja selbst oben und unten knarrte, ächzte, murmelte, brummte und summte es in diesem Wald. Die Wipfel der Bäume schienen sich im Wind über sie werfen zu wollen, die Zweige peitschten sie vorwärts.
Endlich waren sie an einem kleinen Haus angelangt, neben dem sich murmelnd ein Bächlein schlängelte. Es lag auf einer Lichtung, von der Hella noch niemals gehört hatte. Sie schätzte, die Lichtung befand sich ungefähr in der Mitte zwischen dem Lohrberg und den Dörfern Seckbach und Vilbel.
Das Haus selbst lag im Dunkeln, nur hin und wieder blitzgleich vom kalten Mondlicht erhellt. Ein Holzstoß, mannshoch, zeichnete sich links ab, auf der rechten Seite erkannte Hella mehrere Zuber, die umgekehrt auf dem Boden lagen.
«Wo sind wir hier?», fragte sie.
«Im Wald», erklärte der Mann. «An einem Ort, an dem Euch niemand findet. Ein Ort, an dem es warm und traulich ist. Hier könnt Ihr in Ruhe Euer Kind zur Welt bringen.»
Er holte einen riesigen Schlüssel aus der Tasche seines Umhanges und schloss die Tür auf. Gleich dahinter musste eine Öllampe stehen, denn Augenblicke später folgte Hella dieser Lampe ins Innere des Hauses.
Zuerst bemerkte sie den Geruch, der so ungewöhnlich war an diesem Ort, dass sie beinahe erschrak. Es roch … es roch … ja, Hella wagte es kaum zu denken: Es roch wie in einem Mädchenzimmer. Ein wenig nach Vanille, ein wenig nach Zimt, nach Sommerblumen und nach frischgemähtem Gras. So rochen im Winter nur die keuschen Mädchen, die den Tau ihrer Jugend in einen solchen Duft verwandeln konnten.
«Lebt Ihr allein hier?», fragte Hella und kroch tiefer in ihren Umhang.
Der Mann lachte leise. «Nicht immer. Manchmal sind auch Frauen hier, die sich in der gleichen Lage wie Ihr befinden.»
Hella blieb stehen, versuchte, im dunklen Hausflur etwas zu erkennen, aber sie spürte nur Steinboden unter ihren Füßen und fasste mit der rechten Hand nach dem Rauputz der Wand. «Warum tut Ihr das?», fragte sie.
«Was tue ich denn?»
«Ihr helft denen, die Hilfe brauchen», erklärte Hella verwundert. «Es ist doch so, dass Ihr Frauen wie mich aufnehmt, oder?»
«Ja, das ist so», erwiderte der Mann.
«Warum also?»
«Nichts geschieht ohne Eigennutz, meine Liebe. Und jetzt sagt mir Euren Namen.»
Hella überlegte. Ein wenig zu lange, wie ihr selbst schien. Also antwortete sie: «Mein voller Name lautet Hella Maria. Meine Mutter sagte mir, dass er ‹kleine widerspenstige Göttin› bedeutet.» Sie lachte ein wenig auf, aber es klang schrill.
«Dann kommt endlich in die Küche, kleine widerspenstige Göttin, damit Euch warm wird und ich Euch eine Honigmilch machen kann.»
«Und Ihr? Wie ist Euer Name?», wollte Hella wissen.
Wieder lachte der Mann. «Ich habe keinen Namen. Für das, was ich tue, benötige ich keinen. Denkt Euch etwas aus. Nennt mich, wie Ihr mögt.»
«Aber Eure Mutter», widersprach Hella. «Sicher hat sie Euch bei Eurer Taufe einen Namen gegeben. Jeder Mensch hat einen solchen.»
Der Mann trat auf Hella zu, beleuchtete ihr Gesicht, sodass seines im Dunkeln blieb und Hella nur die Umrisse erkennen konnte. «Niemand hat mich je über ein Taufbecken gehalten», sagte er.
Hella schluckte und presste beide Hände schützend auf ihren schwangeren Leib, als wollte sie verhindern, dass das Ungeborene die Worte des Mannes verstand.
Zögernd betrat Hella die Küche. Die Stimme des Mannes hatte warm geklungen. Trotzdem zitterte Hella innerlich, und dieses Zittern kam nicht von der Kälte.
Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Es war der Geruch. Der Geruch nach Mädchen, nach jungen Frauen. Um Gottes willen, was mache ich nur hier?, dachte sie immer wieder. Hoffentlich erhält Heinz meine Nachricht über den Wärter bald. Hoffentlich, hoffentlich sucht er nach mir.
Sie ahnte, dass sie sich in Gefahr begeben hatte, aber noch konnte sie die Größe dieser Gefahr nicht abschätzen. Es ist spät, dachte Hella. Viel zu spät, um allein aus dem Wald heraus und zurück in die Stadt zu finden. Ich werde wohl oder übel bis morgen warten müssen. Ich darf nicht einschlafen heute Nacht. Vielleicht gelingt es mir sogar, ein wenig im Haus herumzustöbern. Vielleicht gelingt es mir wirklich, das Geheimnis um die Mädchen herauszubringen.
«Was geschieht mit den
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