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Die Verdammten der Taiga

Die Verdammten der Taiga

Titel: Die Verdammten der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bleiben?«
    »Das eben sollten wir überlegen, hochverehrte Dame.« Putkin warf noch ein paar Knüppel ins Feuer. Der fahl heraufdämmernde Morgen, ein bleiches Licht, das den Himmel unergründlich und fast feindlich werden ließ, brachte einen kalten, unhörbaren Wind mit. Vorbote des Winters. Jeder spürte ihn auf der Haut, jeder zog den Kopf in die Schultern, aber niemand sprach darüber. Morotzkij schien recht zu haben: Der Winter war näher, als man sich ausgerechnet oder befürchtet hatte.
    »Was gibt es da zu überlegen?« sagte die Susskaja hart. »Natürlich brechen wir aus diesem Wald aus. Was für Gedanken, Igor Fillipowitsch! Oder wollen Sie ein neues Sibiriengeschlecht gründen?«
    »Ich? Womit? Mit der Hand?« Putkin lachte rauh. »Sie haben doch damit schon begonnen, Katja! Es sei denn, die schöne Nadeshna …«
    »Ich würde Sie im Schlaf umbringen –«, sagte Nadeshna, »Ihnen die Kehle durchschneiden.«
    »Also ziehen wir weiter! Gut so!« Er legte sich wieder auf den Rücken. Noch zwei Stunden konnte man sich ausruhen, dann begann die Schinderei von neuem: durch den Wald, eingespannt in die Gurte vor dem Wagen, Meter um Meter nach Süden, im Herzen das stumme Gebet: Gott, laß uns auf Menschen treffen! Gott, laß uns der Freiheit näher sein, als wir ahnen. Gott, führe uns hinaus aus diesem alles verschlingenden Wald –
    Aber Gott hörte sie nicht.
    Mit jedem Schritt, den sie sich weiterschleppten, entfernten sie sich mehr von den Menschen.
    Denn sie merkten alle eines nicht: Die Richtung war falsch. Sie glaubten, auf geradem Wege nach Süden zu ziehen, und sowohl Putkin als auch Andreas benutzten die ausgebaute Flugzeuguhr, die um Morotzkijs Hals baumelte, als Kompaß, aber sie verliefen sich trotzdem.
    Sie krochen nicht nach Süden durch die Taiga, sondern bewegten sich wie eine Spirale in immer größeren Kreisen. Es wäre eine Aufgabe für einen Mathematiker gewesen, auszurechnen, wann sie auf diese Art zur nächsten menschlichen Siedlung kommen mußten. 360.000 Quadratkilometer, und darin immer rund herum. Reichen da zehn Jahre …?
    Am nächsten Morgen, nachdem sie eine Platte Preßtee in heißem Gemüsewasser aufgelöst und muffige Kekse gegessen hatten, spannten sie sich wieder vor den Karren. Benerian schnallten sie oben drauf wieder fest – er hatte jetzt zu singen begonnen. Keine Melodie, sondern nur Töne, willkürlich aneinandergereiht, eine schreckliche, nervtötende Litanei, von der Putkin sagte: »Wenn ich das drei Tage höre, können wir uns brüderlich die Hand drücken, Morotzkij. Dann bin ich auch ein Mörder.«
    Morotzkij spuckte den Karren an, bevor er die Leinenschlaufe um seine Schulter streifte. Andreas sah Putkin an, er wartete auf das Kommando: »Ziiieeehet aaan …«
    »Halten Sie durch?« fragte Putkin gehässig. »Weiber höhlen nicht nur Lenden, sondern den ganzen Körper aus.«
    »Solange Sie gehen, bin ich an Ihrer Seite, Sie behaarter Muskel«, sagte Andreas. »Mich kriegen Sie nicht klein!«
    »Abwarten, mein deutsches Großmaul«, schnaufte Putkin. »Abwarten! Und jetzt – Ziiieeehet aaan –«
    Der neue Tag begann mit Feindschaft. Der Wind wurde stärker und kälter, die Blätter wirbelten durch den Himmel, es gab keine Sonne mehr, sondern nur ein fahles, gelbes Licht, als weine die Sonne hinter einem Schleier. Die Taiga erhob ihre mächtige Stimme … das war ein dumpfes Brausen und Knacken, ein urweltliches Gesinge auf Millionen sich biegender Hölzer, ein den Himmel eroberndes Rauschen aus einem unendlichen Meer grüner Wipfel.
    »Eine Woche noch!« keuchte Putkin. »Verdammt, eine Woche noch! Das genügt! Brüderchen Winter, gönne uns noch eine Woche! Ich rieche Menschen … Nur eine kleine Woche noch, Brüderchen Winter …«
    Und sie wankten mit ihrem Karren im Kreis herum und merkten es nicht.
    Zehn Tage lang quälten sie sich durch den Wald.
    Sie bespuckten den schweren Karren, traten gegen seine geradezu aufreizend unzerstörbaren Gummiräder, hieben mit den Fäusten auf ihn ein, als sei es ein Wesen, das man vernichten müßte – aber sie schleppten ihn weiter mit sich herum, zogen und drückten, lagen in der Nacht um ihn herum, ausgepumpt, so leer wie ein ausgelaufenes Faß, mit stehenden, zitternden Muskeln und einer würgenden Übelkeit. Ihre Erschöpfung war nicht mehr meßbar, und wenn sie sich am Abend anblickten, starrten sich Gespenster an, hohläugig, erdfarben. Gestalten aus zerfließendem Lehm.
    Am nächsten Morgen aber standen sie

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