Die Verdammten der Taiga
wieder vor dem Karren, betrachteten ihre wunden Hände und Schultern und blickten hinauf in den fahlen, immer kälter werdenden Himmel.
»Weiter!« knirschte Putkin dann. »Freunde, weiter! Irgendwo sind Menschen. Holzfäller, Geologen, Fischer an einem Fluß, Jäger, Flößer … die Taiga ist nicht leer, glaubt es mir. Sie ist lebendiger als ein verlauster Kopf. Wir treffen auf Menschen!«
Diese Hoffnung hielt sie aufrecht, diese verrückte Hoffnung, hier irgendwo in der völligen Einsamkeit auf eine Siedlung zu treffen, auf ein Lager herumziehender Jakuten, die ihre Rentierherde durch den Wald trieben, oder auf ein paar Blockhäuser, in denen eine Gruppe Jäger hauste, bis der Stapel der Felle so groß geworden war, daß es sich lohnte, zu den staatlichen Ankaufstationen zu ziehen.
Bis auf die erste Nacht ihrer wahnsinnigen Liebe gaben Katja und Andreas der lauernden Nadeshna keinen Anlaß mehr, Mordgedanken zu nähren und eigene unerfüllte Sehnsüchte in die Decke zu beißen. Sie lagen nachts nebeneinander, eng unter einer gemeinsamen Decke, spürten selig die Wärme des anderen und die glatte, vibrierende Haut … aber sie lagen ganz still, streichelten sich bloß und waren zu erschöpft, um sich zu lieben. Es blieb keine Kraft mehr für die Leidenschaft … die Taiga und der Karren zerbrachen alles.
Am achten Tag hörten sie zum erstenmal Wölfe. Das Geheul fuhr ihnen in die Knochen, und Putkin sagte ernst: »Einen Tag Pause! Ich muß endlich den Gewehrkolben schnitzen. Wir werden schießen müssen …«
»Ein Tag ist verlorene Zeit.« Morotzkij, der an der Wagenwand lehnte, jetzt nur noch ein Gerippe mit einer Lederhaut, vor der eingefallenen Brust die dicke Flugzeuguhr an einem Strick, ein geradezu schauerlicher Anblick, als sei er der leibhaftige Tod, der mit der Stundenuhr herumläuft und jedem zeigt: Genosse, du hast nur noch einige Zeigerumdrehungen zu leben, Morotzkij also wies mit ausgestrecktem, bebendem Arm in den grauen Himmel. »Es schneit bald.«
»Erst kommt der Regen«, keuchte Putkin.
»Noch schlimmer. Dann versinken wir im Schlamm mit unserem verfluchten Wagen.«
»Recht hat er.« Andreas winkte. Er schwitzte nicht mehr … woher auch? Sie hatten noch kein Wasser entdeckt und lebten nur von dem Saft in den Konservenbüchsen und einigen Schlucken Wein. Jekaterina Alexandrowna teilte das alles genau ein: jeder sieben Schluck am Tag. Wovon soll man da schwitzen? Vielleicht schwitze ich eines Tages Blut, dachte Andreas. Das ist die letzte Feuchtigkeit in meinem Körper. Irgendwann wird uns allen die Haut platzen, und wir bluten aus. Wird das eine Wonne sein! Er blickte wie irr um sich und sah Putkin, wie er irgendein Blatt fraß, das noch grün und daher voll Saft war. Er zermalmte es zwischen den Zähnen wie ein Pferd. »Ich habe einmal einen Regen erlebt. In Suchana! Unvorstellbar, wie das Land dann aussieht. Wir müssen weiter.«
Er spuckte auf die Rückseite der inzwischen zerrissenen und total verdreckten Karte, klebte sie an die Holzwand des Wagens und starrte sie an. Die Karte zu halten, war er nicht mehr fähig. Man konnte nichts mehr sehen, so zitterten seine Hände.
»Hier ist doch ein Fluß!« sagte er und stieß die Faust auf das bunte typographische Bild. »Hier! Verdammt noch mal!«
»Aber wissen Sie, ob wir hier gestrandet sind?« fragte Putkin.
»Hier ist überall Wasser eingezeichnet. Überall. Wir leben mitten im Wasser – aber haben wir bis jetzt nur eine Pfütze gesehen? Etwas stimmt hier nicht.«
»Ein kluges Kerlchen.« Putkin riß die Karte vom Wagen und zerknüllte sie. Dann warf er die Papierkugel in die Luft und trat danach, als sei sie ein Fußball. Nadeshna lief hinter ihr her, holte sie zurück, faltete sie auseinander und strich die Karte wieder glatt. »In einem solchen Sommer wie diesem trocknen die Wasserläufe aus. Nur die großen Flüsse bleiben. Nach der Schneeschmelze, oha, da wachsen Ihnen hier Schwimmhäute zwischen den Zehen.« Er hob den Kopf und schnupperte wie ein wildes Tier. »Aber es ist Wasser in der Nähe. Sie haben recht. Acht Tage geradeaus sind wir gekrochen … da muß Wasser kommen!«
Aber auch am zehnten Tag trafen sie auf keinen Bach. Sie waren wieder im Kreis gezogen und wanderten jetzt nach Osten, statt nach Süden. Eine Orientierung zur Sonne war nicht mehr möglich, dann es gab keine Sonne mehr, sondern nur noch einen milchigen Himmel, in den die sterbende Taiga mit einer unbegreiflichen Schönheit hineinbrannte. Es gab
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