Die Verdammten der Taiga
fallen«, sagte er zu sich. »Sie überblickt die Wirklichkeit nicht mehr. Sie ist nur noch ein Weib … das ist ein gefährliches Ding in unserer Lage.«
XXII.
Erinnern wir uns noch an Waska Janisowitsch Serikow, den General in Irkutsk? Er war in einen Heilschlaf versenkt worden, nachdem er die Fotos von Katja Alexandrowna und Andreas Herr zerschossen hatte, man hatte ihn durch einen Kollegen vom KGB verhört, ihm den Marsch geblasen und dann wieder in Schlaf versetzt, damit sich seine angegriffenen Nerven erholen konnten.
Wer die Dame war, deren Gesicht er so zerfetzt hatte, wußte man noch immer nicht; man hatte große Mühe aufgewandt, sein Privatleben zu durchleuchten, aber Serikow hatte anscheinend kein Privatleben gehabt. Er war der vollendete Uniformträger, Vater und Sohn des Militärs, der geborene Held, der selbst im Schlaf noch stramm im Bett liegt und sich befiehlt: ›Genosse, einschlafen! Um sechs Uhr wach werden!‹
Waska Janisowitsch Serikow blieb ein Rätsel. Und da man Rätsel nicht löst, indem man sie weglegt, wurde er aus seinem Heilschlaf wieder geweckt und aus der Klinik entlassen. Allerdings kam er vorerst nicht in sein Kommando zurück, man bewilligte ihm einen Urlaub und bot ihm an, diesen am Schwarzen Meer in einem der Volkserholungsheime zu verbringen. Für hohe Offiziere hielt man dazu eine ehemalige zaristische Villa bereit, wo sie von Ordonnanzen bedient wurden, nicht anders als in einem kapitalistischen Land. Nur die Bezeichnung war volkstümlicher.
Serikow lehnte die Erholung ab. Er blieb auf seinem Zimmer in der Kommandantur, das offiziell seine Wohnung war, ein spartanischer Raum mit Schrank, Tisch, Stuhl und Feldbett. Das Klosett teilte er mit drei anderen Offizieren, das Bad mit zehn Kollegen.
Wer ahnte schon, daß Serikow in Irkutsk, in der Bratstnaskaja Nummer 9, eine kleine Zweizimmerwohnung besaß, ausgestattet mit usbekischen Möbeln und Teppichen aus Samarkand und Aschchabad. Der Mieter hieß auch nicht Serikow, sondern Anatol Nikolajewitsch Sibujanow, von Beruf Beauftragter für den Handel mit Landesprodukten, was so gewaltig und ehrfürchtig klang, daß niemand fragte, zumal dieser Sibujanow beim Mieten der Wohnung ein Schriftstück vorlegte, das ihn auch als Lieferant der Armee auswies. Unterzeichnet mit General Serikow. Und den kannte jeder dem Namen nach in Irkutsk.
In dieser kleinen Wohnung, ein Liebesnest wie aus einem usbekischen Märchen, hatten sich die Susskaja und Waska Janisowitsch getroffen. Monatelang … Nächte, in denen der Himmel herunterfiel und ihre Unterlage wurde, auf der ihre glühenden Körper sich wälzten. Es waren Monate, in denen die Truppen, die Serikow unterstanden, einen so gütigen und väterlichen General erlebten wie nie zuvor. Er sprach mit dem kleinsten Rekruten, hörte sich seine billigen Sorgen an und genoß es sichtlich, als seine Offiziere ihm zutrugen, daß seine Soldaten ihn ›Väterchen Waska‹ getauft hatten. Damals war Serikow wie verzaubert; er spürte nicht mehr die dicken roten Narben, die ihm die Deutschen hinterlassen hatten, er nannte sich den glücklichsten Menschen der Welt und träumte von jenem Tag, an dem er mit großen Ehren aus der Armee verabschiedet werden würde, um sich dann ganz Katja Alexandrowna zu widmen.
Was er nicht verstand, war die Heimlichkeit ihrer Liebe, auf der Katja merkwürdigerweise bestand. Sprach er von Heirat, küßte sie das Wort von seinen Lippen weg, und fragte er geradeheraus, warum man sich verstecken mußte, antwortete sie ebenso offen: »Weil ich es so will!« Das war zwar keine Erklärung, aber um Katja nicht zu erzürnen, schwieg Serikow und spielte den wichtigen Mann Sibujanow weiter.
Das alles war jetzt eine wehmütige Erinnerung. Serikow hütete sich, die Wohnung in der Bratstnaskaja Nummer 9 wieder zu betreten. Er ahnte, daß man ihn beobachtete und jeden Schritt außerhalb der Kasernen überwachte. So leistete er sich nur einige Opernbesuche, spielte mit dem Kommandeur der Luftflotte Mittelsibiriens ein paarmal Schach oder ging am Ufer der Angara spazieren, saß auf der Bank in der kalten Sonne, eingemummt in einen dicken Fuchspelz, und sah den Schlittschuhläufern auf dem Eis des Flusses zu. Ein harmloser Nichtstuer, der sich darauf vorbereitete, ein Staatspensionär zu werden.
Aber ungesehen von den Augen, die ihn verfolgten, bereitete Serikow eine ganz große Sache vor. Die Schachabende beim Kommandeur der Luftflotte verbrachte er nicht nur aus Freundschaft und der
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