Die Verfluchte
Tränen kamen. Ein Teil von ihr, der das ganze Leben lang gefehlt hatte, schien plötzlich an Ort und Stelle zu sein. Roses Herz schlug mit der Geschwindigkeit und Kraft eines galoppierenden Pferdes, und ihr gesamter Körper schien unter den Berührungen dieses dunkelhaarigen Mannes mit dem verwundeten Blick in Flammen zu stehen. Sie wollte, dass er sie küsste, dass er sie hochhob und unten am Weiher in das weiche Moos legte. Dass seine Hände sie an Stellen berührten, die ...
Mitten im Gedanken überfiel sie ein völlig anderes Gefühl.
Unbehagen.
Sie wand sich in seinen starken Armen. Auf einmal wollte sie nur noch fort. Lauf! , kreischte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Lauf um dein Leben!
Aber sie hörte nicht darauf. Sie machte sich aus seinen Armen frei und rückte ein Stück von ihm ab. Schmerz stand in seinen blauen Augen, den sie fast körperlich spüren konnte.
„Wer bist du?“, fragte sie zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit, und dann fügte sie verwirrt hinzu: „Woher kenne ich dich?“ Denn plötzlich wusste sie, dass sie ihn kannte. Sie hatte ihn früher schon getroffen.
Ja , schrillte die Stimme in ihrem Kopf. Das hast du! Und es hat jedes Mal böse geendet!
Sie ignorierte das warnende Kreischen, schaute zu dem Mann auf.
Alan.
Sie war sich ganz sicher, dass das sein Name war. Ihr Blick versank in seinen blauen Augen, und diesmal wurden ihr die Knie so weich, dass sie zusammensackte.
„Hey!“, sagte er, als er sie auffing. Er schien die Angst in ihrem Blick zu sehen, denn er murmelte: „Es ist alles gut!“ Aber der Ausdruck in seinen Augen strafte ihn Lügen. Er war ebenso zerrissen wie sie. Er wollte bei ihr sein, und gleichzeitig wollte er nur fort von hier. Er senkte den Blick. Es sah aus wie eine Kapitulation.
„Was passiert mit uns?“, wisperte sie.
Sein Atem streifte ihre Wimpern, als er antwortete. „Wir werden bestraft.“
Es war dieses eine Wort.
Bestrafung.
Auf einmal explodierte die pure Panik in ihr. Mit einem Ruck riss sie sich los. Stolperte zwei Schritte rückwärts.
Erschrocken schaute Alan sie an, aber bevor er etwas sagen konnte, warf sie sich herum. Und rannte los.
In ihrer Hütte kniete Glynis vor dem bronzenen Dreifuß und blickte auf den silbernen Anhänger in ihrer Hand. Ihre Lippen murmelten unablässig uralte keltische Zaubersprüche. Ihr schmales Gesicht war zerfurcht vor Sorge.
„Es wird nicht klappen“, sagte eine Stimme hinter ihr.
Glynis unterbrach ihr Gemurmel und wandte sich um.
Enora stand in der Ecke des kleinen Raumes und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Er wird sie töten“, sagte sie leise. „Wie jedes Mal.“ Ihre Stimme klang traurig. Traurig und vorwurfsvoll. „Du wirst nicht genug Zeit für das Ritual haben!“
Doch Glynis schüttelte trotzig den Kopf. „Es muss klappen!“, flüsterte sie. „Mehr als zweitausend Jahre müssen Branwen endlich reichen!“ Hoffnungsvoll richtete sie den Blick wieder auf den Anhänger. Die drei cremefarbenen Kerzen flackerten sacht im schwachen Luftzug.
Enora jedoch sah nicht überzeugt aus. „Der Hass einer Morrigan ist stark. Er reicht noch für hundertmal zweitausend Jahre“, flüsterte sie.
Da schloss Glynis die Faust um die Silberkette. „Eben darum werden wir das Ganze hier und jetzt beenden!“
Roses Füße flogen über die trockene Erde. Die Wildrosenhecke war links von ihr, sie spürte die Zweige, die ihr ins Gesicht peitschten. Dornen rissen an ihrem Rock, schienen sie festhalten zu wollen. Festhalten für ihn.
Er war dicht hinter ihr. Sie konnte seine Schritte hören, seinen Atem. Sie beschleunigte ihren Lauf, doch es nützte nichts. Er war jetzt ganz nah. Sie spürte, wie seine Finger ihre Schulter streiften. Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle. Sie warf sich vorwärts, aber es war zu spät. Hart klammerte sich seine Hand um ihren Arm. Sie wurde herumgerissen.
Angstvoll starrte sie in seine blauen Augen, in denen jetzt ein unheimliches strahlendes Leuchten stand. Mit einem entsetzten Schrei riss sie sich los. Ihr Fuß verfing sich in einer hochstehenden Wurzel, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte.
Dornen gruben sich schmerzhaft in ihre Handfläche, als sie nach Halt greifen wollte. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper. Alan hatte sie vor dem Aufprall bewahrt. Mit starken Armen hielt er sie umfangen.
Sekundenlang rührten sie sich beide nicht. Rose spürte, wie er sie an seinen Leib presste, spürte seine Bauchmuskeln an ihrem Rücken
Weitere Kostenlose Bücher