Die Verfluchten
Möglichkeit, an Wein oder auch stärkere Getränke zu gelangen.
Nicht aber bei hellem Tageslicht, nicht in aller Öffentlichkeit und
nicht in einem Gasthaus wie dem, in das sie Mustafa begleitet hatten.
Ein Etablissement anderer Art zu finden, in dem nicht nur alkoholische Getränke feilgeboten wurden, sondern auch andere, noch viel
strenger verbotene Genüsse, hätte vermutlich kein Problem dargestellt, aber das hätte bedeutet, sich auch in eine andere Gegend zu
begeben, in Straßen und Gebäude, in denen Fremde misstrauisch
beäugt wurden und um die man besser einen Bogen machte, wollte
man nicht Gefahr laufen, unversehens einen Dolch an der Kehle zu
spüren oder zumindest seiner Barschaft und seiner Kleidung beraubt
zu werden. Andrej hatte keine Angst davor - warum auch? -, aber er
hatte zu viel Zeit in solchen Gegenden verbracht, als dass es ihn
dorthin zurückzog. Das angenehme Leben in bescheidenem
Wohlstand und vor allem in Frieden, dachte er belustigt, ging anscheinend auch an ihm nicht spurlos vorüber.
»Was ist so komisch?«, wollte Abu Dun wissen, der auf der anderen Seite des Tisches saß und sich so postiert hatte, dass er sowohl
Andrej als auch Mustafa Bo und Salil as Salil gleichzeitig im Auge
behalten konnte. Erst, als er diese Frage hörte, wurde Andrej klar,
dass sich der Gedanke offenbar auch auf seinem Gesicht widergespiegelt hatte.
»Nichts«, sagte er, während er die Tasse aus feinem Porzellan zurückstellte. »Ich ertappte mich nur gerade bei dem Gedanken, dass
mir dieses Leben zu gefallen beginnt.«
Abu Dun legte die Stirn in Falten. »Das Leben als Aufpasser dieses…«, er tat so, als müsse er angestrengt nach dem passenden Wort
suchen, »wie nennt ihr das doch noch gleich bei euch?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Andrej lächelte erneut. »Ein
Leben in Frieden. Ohne ständigen Kampf. Ohne andauernd Angst
vor irgendetwas haben zu müssen.«
»Wann hättest du jemals Angst vor etwas gehabt?«, erkundigte sich
Abu Dun und fügte nach einem Atemzug und mit einem Schulterzucken hinzu: »Außer vor mir, versteht sich.«
»Du weißt, was ich meine.«
Abu Duns finsterer Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber seine
Stimme klang plötzlich spürbar ernster. »Wenn dieses Leben tatsächlich anfängt, dir zu gefallen, dann wird es vielleicht Zeit, damit aufzuhören.«
Andrej wusste, was er meinte. Auch er selbst hatte sich gerade in
den letzten Tagen mehr als einmal bei diesem Gedanken ertappt, aber
er war nicht sicher, ob das tatsächlich seine Überzeugung war oder
nicht eine alte Gewohnheit. Sie lebten jetzt schon seit so vielen Jahren wechselweise als Krieger, Flüchtlinge oder Suchende - manchmal auch als alles zusammen - , dass sie vergessen zu haben schienen, wie ein anderes Leben hätte aussehen können. Und das einzige
Mal, als ausgerechnet Abu Dun versucht hatte, aus dieser Rolle auszubrechen, hatte in einer Katastrophe geendet, unter deren Folgen der
riesenhafte Nubier noch heute litt.
Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Sicher. Aber jetzt noch nicht.«
»Sondern später, ich weiß.« Abu Dun nickte. Andrej konnte nicht
genau sagen, ob das Funkeln in seinen Augen Spott oder Sorge war.
»In einer Woche, oder vielleicht auch in einem Monat. Und warum
nicht nächstes Jahr? Zeit haben wir schließlich genug.« Andrej warf
ihm einen warnenden Blick zu und runzelte die Stirn. Er mochte es
nicht, wenn Abu Dun in aller Öffentlichkeit Anspielungen auf das
machte, was sie wirklich waren; nicht einmal Anspielungen wie diese, die außer ihm kein anderer verstehen würde. Abu Dun fuhr dennoch fort: »Und wenn wir schon einmal dabei sind, warum nicht im
Jahr danach oder in dem darauf folgenden oder in dem danach? Warum bleiben wir nicht hier und warten ab, bis der Krieg in Europa
vorüber ist und du gefahrlos zurückkehren kannst?«
»Weil dann ein neuer käme«, antwortete Andrej.
Er rechnete nicht damit, dass Abu Dun ihm überhaupt zuhörte, und
ganz offensichtlich war das auch nicht der Fall.
»Und was willst du anfangen, mit deinem friedlichen Leben?«, fuhr
der Nubier fort, und nun hatte Andrej das Gefühl, dass sein Zorn gar
nicht mehr gespielt war. »Dich irgendwo niederlassen und Ackerbau
und Viehzucht betreiben? Oder ein Händler werden wie unser Freund
Mustafa?«
Einen Moment lang überlegte Andrej, ob er überhaupt darauf antworten sollte. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch
führten, wenn sie es auch zumeist
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