Die Verfolgerin - Roman
hingegen strampelte als Baby sobald er die Augen geöffnet hatte und wollte heraus aus dem Bett. Die beiden sind ins Auto gestiegen, haben das Fenster heruntergekurbelt und ich habe gerufen, sie sollen auf sich aufpassen. Das sage ich immer. Ich stelle mir vor, dass meine Worte sie unverwundbar machen wie die Zaubersalbe im Märchen die Helden schützt.
Ich brühe mir schwarzen Tee, lasse ihn acht Minuten ziehen, giesse ihn in eine Kanne, rühre Agavensirup hinein und etwas Milch. Mit der Kanne und meinem Lieblingsteeglas, eines, aus dem Türken üblicherweise Tee trinken, aber auch Bulgaren und Russen, verschwinde ich in meinem Arbeitszimmer. Ich will es mir als Verfolgerin nicht leicht machen. Ich lese zuerst die Gesichter und wähle sorgfältig aus. Das tun nicht viele. Gorbowez, der 54-jährige Vollbärtige mit den sehnigen Bauernhänden, dem kräftigen Brustkasten und groben Gesicht hat sich keine Gedanken gemacht. Der hat sich einfach Leute, die ihm über den Weg liefen, geschnappt und ihnen das Herz aufgeklopft. Auch Kindern. Mit Hammer und Meissel. Nur um zu hören, ob der Mensch wirklich eines hat. Gorbowez ist eine Romanfigur. Ist er wirklich nur eine Figur? Vladimir Sorokin ist ein realer Autor mit realen Gedanken und Vorstellungen. Er hat den fiktiven Handlanger Gorbowez geschaffen, um ihn seine Gedanken und Vorstellungen ausführen zu lassen. Wenn Gorbowez eine fiktive Figur ist, sind dann seine Gedanken und Vorstellungen auch Fiktion?
Lisa ruft an. Ein Telefonat mit ihr dauert eine Stunde. Ich schenke mir Tee nach und rufe meine Mails ab.
Hallo, ich wollte einfach mal ein bisschen mit dir schwatzen, sagt Lisa.
Ich sage ihr, dass ich gerade keine Zeit habe. Termintexte. Ich weiss nicht, was Termintexte sind. Lisa fragt nicht danach. Kann sein, sie weiss es.
Lisa sagt nachdenklich: Mhm, aber ich habe nun mal jetzt Zeit und wenn du Zeit hast, dann habe ich wieder keine.
Sie lacht über ihre Worte. Ich schaue auf die Uhr. In einer dreiviertel Stunde ist es fünf nach elf. Viertel vor elf kann ich ihr sagen, dass ich dringend aufs Klo muss. Wenn ich Glück habe, würde Lisa dann sagen, dass wir sowieso am Ende seien, sie habe eigentlich alles gesagt. Wenn sie das nicht sagt, würde ich ihr anbieten, gleich wieder zurückzurufen. Ich will Lisa nicht verärgern. Lisa fragt, wie es mir gehe. Ich sage ihr, dass ich vorige Woche gestorben sei und dass es mir seitdem gut gehe. Lisa lacht. Sie sagt, dass das nicht mein Ernst sei. Doch, sage ich. Aber es sei nicht weiter schlimm. Lisa ist Pathologin. Sie kennt sich aus mit Toten. Vielleicht lacht sie deshalb. Sie sagt, dass sie mit den Toten, die sie kennt, nicht telefonieren könne. Ich sage, dass es immer Ausnahmen gebe, und frage, wie es ihr gehe, um die Gesprächszeit abzukürzen. Sie wisse nicht so recht, ob es ihr gut oder schlecht gehe. Gut gehe es ihr, weil sie jemanden kennengelernt habe. Einen jungen Mann bei einer Wanderung, auf der Alm. Er habe an einer Holzhütte gelehnt und sich gesonnt. Schwarze Haare und fünf Jahre jünger als sie, gerade getrennt von einer Frau. Genau ihr Typ, er wolle sie anrufen. Lisa erzählt, was er gesagt, wie er sie angeschaut habe. Sie erzählt mir, wie sie seine Worte und Blicke deutet. Und sie beginnt dann mit dem zweiten Teil ihrer Einleitung: Ihr gehe es schlecht, weil alles beim Alten sei, nichts so recht vorwärts gehe. Sie wisse auch nicht, wie sie es benennen solle. Sie langweile sich. Nichts passiere. Jeden Tag in die Arbeit. Die sei okay. Aber es seien halt eben Tote. Niemand zum Reden. Die hätten schon etwas zu sagen, die Körper, die sie seziere und analysiere. Aber sie könne mit denen nicht reden, also schon, aber sie würde keine Antwort erhalten. Und Schmusen könne sie mit denen wahrscheinlich auch nicht, sage ich, weil ich lange nichts mehr gesagt habe. Ja, sagt Lisa, und das sei genau das Problem. Sie sei allein und ihr gehe es gar nicht gut damit. Ich sage ihr, dass ich zu zweit sei und es mir auch nicht gut damit gehe. Wir lachen. Dann ruft Lisa: Oh, ich muss fort. Es sei ja schon viel zu spät. Entschuldigung. Ein andermal.
Als Lisa sieben Jahre alt war, ist ihre Mutter fortgegangen, in den Osten, mit einem anderen Mann. Lisa hat mir das vor einem Jahr erzählt. Wir sassen hinter unserem Haus auf der Terrasse und tranken erst Rotwein und später Whisky. Wir haben viel gelacht und haben versucht, im Stehen im Garten zu pinkeln, um es den Männern gleichzutun. Immer wenn Lisa aus dem Dunkel des
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