Die Verfolgerin - Roman
ich, bevor wir uns kennengelernt haben, diese Dinge gemocht hätte.
In dem Ort Dorf gibt es vier Bauernhöfe aus vorigen Jahrhunderten, eine Kapelle und einen Bach. Wer auf dem Lehmweg durch Dorf spaziert, könnte meinen, er befinde sich in einer mittelalterlichen Filmkulisse. Im Bauernhof Nummer drei ist der Mann geboren. Wenn er gestorben ist, soll seine Asche vom Seeberg über Dorf verstreut werden. Das hat der Mann den beiden Söhnen so gesagt und mir, als wir uns kennengelernt haben und die beiden Söhne noch gar nicht gezeugt waren. Der Seeberg ist einer der fünf Berge, die Dorf umgeben – der Wendelstein, der grosse und kleine Traithen, der Seeberg und der Miesing. Der Seeberg hat keine markante Form, ist nicht besonders hoch und die Aussicht vom Gipfel ist keine besondere. Besonders ist die Stimmung um den Gipfel des Seebergs im November an Nebeltagen, die Geräusche, die Farben und das Licht. Der Mann und ich haben an solchen Novembertagen auf einer Bank unweit des Gipfels gesessen und den Tropfen, die von den gelben Blättern fielen, gelauscht.
Sonntags steigt der Mann auf einen dieser Berge oder einen in der Nachbarschaft. Wenn er am Nachmittag zurückkommt, fährt er den Lehmweg nach Dorf zu seiner Mutter zum Kaffeetrinken. So guten Kaffee wie in Dorf gibt es nirgends, sagt er. Das liege am Wasser. In der Zeitung stand, dass die Bewohner von Dorf kein Wasser aus der Leitung trinken sollen, weil das Gesundheitsamt im Wasser Darmbakterien gefunden habe. Das Gesundheitsamt vermutet, dass sie über die Wiesen von Hochkreuth, auf denen Kühe weiden und die Bergbauern Odel – so nennen die Leute in Dorf die Jauche – ausbringen, ins Trinkwasser gelangt sind, hatte ich vor einigen Wochen erzählt, als wir bei seiner Mutter am Kaffeetisch sassen. Ach ge‘, hatte der Ehemann geantwortet. Deshalb ist das Wasser ja so gut. Die Mutter des Ehemannes hatte gesagt: Weisst du, solange ich denken kann, haben wir nichts anderes als unser Wasser getrunken, weil es so gut ist. Nur früher hat ja da keiner irgendwas gemessen oder solchen Zirkus gemacht.
In die Haut der Mutter des Ehemannes sind die Sonnentage der Bergsommer und die Sonnentage der Bergwinter eingebrannt. Der Klang ihrer Stimme ist ein Teil der Berge. Unerschütterlich. Ihre Stimme bricht nur, wenn sie vom Tod einiger ihrer Geschwister erzählt, vom Benn, der in der Früh tot neben seiner Frau lag. Benns Frau hatte es erst bemerkt, nachdem sie das Feuer im Küchenofen entfacht, den Kaffee aufgebrüht und die Zeitung aus der Zeitungsrolle am Gartentor hereingeholt hatte und ihn zum Kaffee holen wollte.
Stell dir vor, dabei lag er schon die ganze Nacht tot neben ihr, erzählte damals, kurz nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, die Mutter des Ehemannes mit brechender immer leiser werdender Stimme. Tränen standen ihr in den Augen und die Winter- und Sommerbergsonne in ihrem Gesicht zog sich zurück, sodass die Haut blass und irgendwie leer aussah.
Ich bin nicht mit nach Dorf gefahren. Das erste Mal, seit dreiundzwanzig Jahren. Dem Ehemann hatte ich gesagt, dass ich einen Text für einen wichtigen Kunden schreiben müsse. Ich habe Expressauftrag dazu gesagt und dass ich ihn am Abend abgeben müsse. Der Ehemann hat schade gesagt und: Tu was du nicht lassen kannst. Er hat seinen Mund breit gezogen. Ein Lachen war das nicht. Ich wollte dem Mann sagen, dass wir uns später in Dorf treffen können, das ich nachkomme und wir auf dem Heimweg im See schwimmen können. Vor einigen Tagen noch hätte ich solche Dinge gesagt, damit die Qual aus dem Gesichtsausdruck des Mannes rutschte und er lächelte. Vor einigen Tagen noch sorgte ich dafür, dass er lächelte. Heute unterliess ich es. Ich kann nicht sagen, warum ich es unterliess.
Ich habe das Haus zwanzig Minuten nach dem Ehemann verlassen. Mit meinem Auto. Das ist neu. Ein Twingo ohne Zentralverriegelung, ohne Servolenkung, mit Schiebedach. Azurblau. Ich mag Blau nicht. Die einzige Farbe, die ich nicht mag. Das Auto stand auf dem Hof des Händlers. Ich musste keine Überführungskosten zahlen. Deshalb habe ich es trotz dem Azurblau geleast. Mein erstes Auto. Ein Zweitwagen in unserer Familie. Eine Katastrophe für die Umwelt, hat der Ehemann den Twingo genannt. Ein neues Auto. Was das an Energie allein schon für die Herstellung koste. Der Ehemann fährt mit einem Volvo V70, einem Kombi. Der ist drei Jahre alt. Der Ehemann kauft immer Autos, die drei Jahre alt sind und keine neuen, wegen der Umwelt, so sagt
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