Die Verfolgerin - Roman
Gartens kam, sagte sie triumphierend: Es hat geklappt. Lisa hat ihre Mutter nie wieder gesehen. Sie weiss nur, dass sie gestorben ist, nicht wo sie begraben ist. Das sei ihr auch egal, sagte sie immer wieder, hob das Glas und wir stiessen an.
5
Niemand kann allein sein. Ich auch nicht. Deshalb habe ich mir Bücher in den Lesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek bestellt. Die Stichwortsuche war nicht einfach. »Ihre Suche erzielte keine Treffer«, zeigte der Computer bei den Schlagwörtern ›Serienmord‹, ›Serienmörder‹, ›Serienmörderinnen‹ an. Unter dem Stichwort ›töten‹ fand das System 271 Einträge. Unter ihnen Titel wie ›Der gewaltsame Tod in der Vormoderne‹, ›Tod durch fremde Hand – ein Leitfaden für Staatsanwälte‹ oder ›Wir töten Stella, ein Text- und Kommentarheft für den Deutschunterricht‹. Im Lesesaal gibt es über tausend Arbeitsplätze auf zwei Ebenen. Sie sind alle besetzt. Ich suche mir einen Stuhl und schleppe ihn zu einem Fensterbrett. Ein Notplatz. Das genügt mir. Krähen fliegen vor den Fenstern auf, lassen sich auf den Bäumen nieder. Ich kann ihr Krächzen durch die Scheiben hören. Ich schaue mir das Bild einer Frau mit einem runden Gesicht und kleinen Augen an. Die sind hellwach. Ihr dünnes, braunes Haar steht kraus um ihren Kopf. Die Frau heisst Waltraud Wagner. Waltraud Wagner ist Schwesternhelferin und arbeitete in einem Pflegeheim in einer Kleinstadt in Österreich. Waltraud Wagner gibt es, so wie es Gesche Gottfried gab und die Marquise de Brinvillier. Sie sind nicht dem Geist eines Autors entsprungen. Die Marquise de Brinvillier tötete drei Menschen, mit Arsen. Im 17. Jahrhundert. In der Conciergerie in Paris, dem »Vorzimmer zur Guillotine«, habe ich ihr Bildnis an der Wand hängen sehen. Ich war mit dem jüngeren Sohn im vorigen Sommer in Paris. Der Mann wollte nicht mit mir reisen. Er wolle für so etwas kein Geld ausgeben, sagte er. Keine Sache von dauerhaftem Wert. Ich verstand nicht, was er meinte, und fragte nicht nach. David und ich wohnten in der Rue de Orsel am Montmartre in der Wohnung eines Schauspielerehepaares, das zu einem Dreh in Toronto weilte. In der Rue de Orsel war die Hitze des Tages zwischen den Häuserzeilen eingesperrt. In der Wohnung des Schauspielerehepaares klemmten an den Schränken und lehnten an den Büchern in den Regalen Schwarz-Weiss-Fotos, auf denen beide zu sehen waren. Eine zierliche Frau mit dunklen schulterlangen Haaren, die ihn mit ihren grossen dunklen Augen einsog. Wie er aussah, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir sahen uns am Abend Charlie-Chaplin-Filme aus der Videothek des Paares an und streiften tagsüber durch die Sehenswürdigkeiten von Paris, einer Stadt, in der alles Leben eingemauert war: die Seine, die Bäume auf den Gehsteigen, die Blumen in den Parks, die Jardins selbst lagen hinter dicken Mauern verborgen oder waren von hohen Gitterzäunen mit spitzen Zacken eingesäumt. Auf unseren Streifzügen entdeckte ich in der Conciergerie das Bildnis der Marquise der Brinvillier, das sie kurz vor ihrer Hinrichtung im Jahre 1676 zeigte. Eine Frau mit einem runden Gesicht, zu einer verzweifelten Grimasse verzogen, die Augen gen Himmel verdreht. Gesche Gottfried tötete fünfzehn Menschen mit Mäusebutter, ein Fett gespickt mit Arsenkügelchen. Sie lebte im 18. Jahrhundert. Waltraud Wagner tötete neununddreissig Menschen. Mit Wasser. Waltraud Wagner lebt heute. Ich schiebe mein Buch beiseite und gehe meinen Vorstellungen, die sich zu Waltraud Wagner einstellen, nach. Dunkle Gänge im Pflegeheim, alte Gemäuer, eine Villa, erbaut im 19. Jahrhundert, ein Park mit alten Linden, Kastanien, Buchen. In der Villa der Geruch von Desinfektionsmittel, Urin, Schweiss, Kaffee und Mittagessen. In den Gängen durch halboffen stehende Türen Stöhnen und Jammern. Heisse Luft in den Zimmern. Ich stelle mir vor wie Waltraud Wagner in die Zimmer der Bewohner tritt, sie anspricht: Guten Morgen Frau Merkur, heute ist ein wunderschöner Tag, klare Luft, blauer Himmel, der erste schöne Sommertag. Auf den Wiesen liegt frisch gemähtes Gras, das duftet. Frau Merkur lächelt und sucht den Blick von Waltraud Wagner. In Frau Merkur kann Waltraud Wagner noch Freude entzünden, die flackert über den Tag. Die Freude kann sie, Waltraud Wagner, leicht entflammen, wenn sie bei der alten Dame vorbeischaut und vom Duft der Linden im Park erzählt. Von Zeit zu Zeit muss Waltraud Wagner aufräumen. Nicht die Zimmer, sondern Bewohner.
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