Die Verfolgerin - Roman
muss sie sich ein Zimmer im Hotel nehmen. Der Zug kommt um eine halbe Stunde verspätet in Zürich an. Ich spaziere durch die Bahnhofshalle. An einem Geländer, hinter dem eine Rolltreppe in die Untergeschosse führt, lehnen drei junge Männer. Zwischen ihnen jeweils ein Meter Abstand. Ein jeder hat seine Hände in den Taschen, und zwei haben die Kapuze vom Kapuzenpullover über den Kopf gezogen. Der Dritte nicht. Sie bilden ein Muster. Das ist unterbrochen durch den einen, der die Kapuze nicht über den Kopf gezogen hat. Ich denke: Die drei sind eine Art Kunstwerk, das sich zufällig ergeben hat. Zufallskunst. So gesehen liesse sich die Welt in Kunstareale einteilen, die sich fortwährend auflösen und neu konstituieren. Fotografen halten so etwas fest. Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September sei »das grösste Kunstwerk, das es je gegeben hat«, sagte der Komponist Karlheinz Stockhausen, und die Zeitungen druckten es kurz nach dem Anschlag. Kurz nach dem Anschlag war so etwas zu sagen verboten. Kurz nach dem Anschlag erlegte sich die Presse selbst eine Zensur auf. Die drei Jungen, die am Geländer in der Bahnhofshalle lehnen, kennen sich vermutlich nicht. Ich drücke auf den Auslöser meiner Kamera und suche nach weiterer Zufallskunst. Von der Hallendecke hängt ein Engel von Niki de Saint Phalle. Hinter einem Bauzaun wird ein Weihnachtsmarkt aufgebaut. Eine Tanne, die bis unter die Hallendecke reicht, ist in eine weisse Lichterkette gewickelt. Die Stellwände für die Buden liegen gestapelt um den Christbaum und sind in Cellophan verpackt. Sie liegen um die Tanne herum wie Weihnachtspäckchen. Ich streife gern auf Bahnhöfen umher. Auf dem Berliner Hauptbahnhof, dem Gare de l’Est in Paris, dem Münchner Hauptbahnhof.
Ich gehe in das amerikanische Selbstbedienungs-Café im Südwesten der Zürcher Bahnhofshalle. Es befindet sich in einem Glaskubus neben der Rolltreppe. Hinter den Glasscheiben der Theke liegen Muffins und Donats. Ich kaufe mir eine heisse Schokolade und setze mich auf einen der Hocker. Es stehen nur noch zwei von den Jungen mit den Kapuzenshirts an der Rolltreppe. Das kann ich durch den Glaskubus sehen. Ich lege meine Kamera auf den Tisch, richte das Objektiv zur Theke aus. Ich drücke gelegentlich, unauffällig, sodass es keiner bemerkt, auf den Auslöser, schaue mir die Fotos im Display an. Die Kamera liegt gut. Ich erwische die Gesichter. Gesichter von Menschen, die sich unbeobachtet fühlen, sind in sich gekehrt, als würden sie nichts von der Welt wahrnehmen. An der Wand hinter der Theke sind grosse Kreisflächen erleuchtet. Das gibt einen guten Hintergrund und ein sanftes Licht für die in sich gekehrten Gesichter. Der junge Mann hinter der Theke, der aussieht wie ein Italiener, reicht seine Hand über den Tisch, lässt sich Geld von einem Reisenden hineinlegen. Der, der Geld hineinlegt, ist Familienvater. Seine beiden Kinder sitzen auf den Hockern am Tisch und warten. Sie sprechen englisch. Der Mann trägt einen orangen Anorak, seine Haare sind grau. Über seinem Gesicht liegt ein Schleier, gewebt aus Erschöpfung und Traurigkeit. Er reicht das Geld über die Theke und schaut dem jungen Mann nicht in die Augen. Er ist mit seinen Gedanken woanders. Bei der Arbeit? Vielleicht ziehen die Vorwürfe, die seine Frau vor ein paar Stunden ihm durchs Telefon mit auf den Weg gab, gedanklich an ihm vorbei. Vielleicht kommen die drei von der Schwiegermutter, die schwerkrank ist. Ein letzter Besuch.
Es liegt an Vater, dass ich gerne auf Bahnhöfen herumstreife. Manchmal sehe ich ihn. Zuletzt vor einem Jahr auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin. Ich sass im Untergeschoss auf Gleis neun auf einer Bank, schleckte Eis. Er schlenderte den Bahnsteig entlang. Die Knie seiner Uniformhose waren wie immer ausgebeult, Falten in den Ärmeln, Staub auf dem Revers. Unter der Schirmmütze quoll sein blondes Haar hervor. Er ging den Bahnsteig im zweiten Untergeschoss entlang, vorbei an den Leuchtanzeigen, den aus Holz ausgeschnittenen Bahnmännern, vorbei an den Koffer ziehenden Reisenden, die Rolltreppe hoch in Richtung Glaskonstruktion, in Richtung Licht. Wegen der vielen Geschosse, dem Glas, dem Stahl, der Konstruktion der Räume, in die man hinunter oder hinauf blicken kann, wegen der Blickachsen in den Himmel, unter die Erde, auf die Stadtlandschaft, die Spree, das Ufer wirkt der Bahnhof menschenleer. Vielleicht sehe ich Vater auch auf dem Zürcher Bahnhof. Vielleicht beim Weihnachtsmarkt. Vielleicht
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