Die Verfolgerin - Roman
spricht er dort mit einem der Arbeiter, die den Bauzaun errichten. In meiner Vorstellung raucht er, weil er immer geraucht hat. Am 2. August 1990 ist Mutter gestorben. Am 11. Dezember 2001 ist Vater gestorben.
Punkt 17 Uhr betrete ich die Bar des Hotels Savoy in der Bahnhofstrasse. Gedämpftes Licht. Teppich. Mitten im Raum ein Flügel, entlang der Wände eine mit Leder bezogene Bank. Ich schaue in die Runde. Ein alter Mann sitzt an einem Tisch vor einem Cocktail, neben ihm zwei Krücken. An allen anderen Tischen sitzen Pärchen. An der Bar steht eine Familie, eine Frau um die fünfzig mit langen grauen Haaren, zwei Söhnen und zwei Töchtern. Die Söhne tragen schwarze Pullover und schwarze Jeans. Sie sind blass, wirken zerbrechlich. Jede noch so feine Empfindung schimmert durch ihre Haut. Mir fasst von hinten jemand auf die Schulter. Ein langer, hagerer Mann mit kurz geschorenen Haaren und einer randlosen Brille. Grafik-Designer sehen so aus. Rüdiger Ahorn, sagt er. Er sass an dem Tisch neben der Eingangstür vor einem Glas Tonic. Ich bestelle mir einen Tomatensaft und Oliven dazu.
Herr Ahorn sagt, dass er sich in einer halben Stunde in der Bar mit einem wichtigen Kunden treffe. Ich sage, dass ich so gehen werde, dass er Zeit habe, sich auf das Gespräch einzustellen. Herr Ahorn hat seine Brille auf dem Nasenrücken in Richtung Nasenspitze geschoben. Er schaut über den Brillenrand auf mich herab. Sein Mund ist leicht geöffnet und schief. Ich sage ihm, dass ich Journalistin bin und wissen will, wie leicht oder schwer es für Terroristen sei, Gifte zu beschaffen. Zum Beispiel Rizin. Ich sage, dass im Internet stehe, wie einfach es herzustellen ist, aber keiner sage wie. Herr Ahorn sagt, dass es verboten sei, solche Dinge ins Internet zu stellen. Er sagt: Zu Recht. Ich sage: Richtig. Jedenfalls sei die Herstellung in der Tat nicht schwer, bestätigt er. Er redet von den Rückständen von Rizin beim Pressen von Rizinussamen, um Rizinusöl herzustellen. Aus denen könne man reines Rizin gewinnen. Und wie? Herr Ahorn sagt, dass er zwar der Informationschef seines Unternehmens sei, aber nicht für solche Art von Informationen zuständig. Als Journalistin müsste ich in der Lage sein, mir die Frage selbst zu beantworten. Er hat seinen Mund beim letzten Wort mit einem schnalzenden Geräusch zuschnappen lassen und gleichzeitig über die Brillenränder auf mein Gesicht heruntergeschaut. Ich schaue zu seinem Gesicht hinauf. Um seine Mundwinkel zuckt ein Lächeln und in seinem Gesicht leuchtet Zufriedenheit. Die Bedienung bringt den Tomatensaft und die Oliven. Ich verlange die Rechnung, stehe auf, ziehe mir meine Jacke an, verabschiede mich von Herrn Ahorn. Ich bezahle an der Bar, weil ich nicht neben Herrn Ahorn sitzen und auf die Rechnung warten will. Als ich hinausgehe, schaue ich zum Tisch, an dem wir gesessen haben. Es steht das Glas Tonic, fast leer, und das Glas Tomatensaft, unangetastet, darauf. Herr Ahorn ist verschwunden.
10
In der Bahnhofstrasse in Zürich leuchten in den Auslagen der Geschäfte viele kleine Weihnachtslämpchen. Durch die Fussgängerzone selbst weht ein eisiger Wind. Schnee gibt es noch nicht. Die Präsentation der Entwürfe der neuen Firmenzeitschrift findet in einem klimatisierten Raum ohne Fenster statt. Am Tisch sitzen zwei der Firmeninhaber des Pharmaunternehmens, die Marketingchefin sowie die Inhaber der zur Präsentation geladenen Werbeagenturen mit ihren Art Directors. Die Goldmann und ich sitzen unter ihnen am Tisch. Die Leute aus den Werbeagenturen, zwei Frauen und fünf Männer, tragen Anzüge. Dunkelblau mit feinen Streifen, dunkelbraun, einer in Schwarz. Die Anzüge sind zerknittert, die Hemden, die sie darunter tragen, ungebügelt. Es wirkt, als sei dies die Arbeitskleidung von Art Directors und Inhabern von Werbeagenturen. Die Goldmann trägt Jeans, eine weisse Bluse und eine Perlenkette um den Hals. Die blonden Haare zu einem Zopf am Hinterkopf gebunden. Ihre Brille baumelt an einem Goldkettchen vor der Brust.
Die Leute aus den Werbeagenturen beamen ihre Entwürfe auf eine Leinwand. Die Goldmann lässt Ausdrucke herumgehen. Sie sagt, sie benutze keinen Beamer und all das neumodische Zeug, weil es in diesem Fall wichtig sei, wie sich das Papier anfühle, wie die Zeitung in der Hand liege, ob man bequem darin blättern könne. Sie erzählt, mit welchen Zeitungsformaten sie welche Schwierigkeiten habe, wenn sie in der U-Bahn sitzt und lesen möchte. Manchmal rutschen die Alttöne
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