Die Verfolgerin - Roman
nehmen, wenn man sich entschliesst Rizinussamen zu kauen, um sich umzubringen. Keine schöne Sache, schreibt er. Oder vielleicht ist es eine Sie? Sehr qualvoll, heisst es weiter im Text. Es gebe bessere Methoden. Ich gebe als Suchbegriff »Herstellungsanleitung für Rizin« ein. Es erscheinen Pressemeldungen: »Herstellungsanleitung für Rizin gefunden. Zumindest beschäftigt sich al-Qaida auch mit der Herstellung von Biowaffen«, »Kreml warnt vor Ultragift Rizin«. Rizin fällt unter die Biowaffen- und Chemiewaffenkonvention. Es eigne sich zwar nicht für grössere Anschläge, aber für Anschläge gegen Einzelpersonen, lese ich. Meine Suche im Internet kann verfolgt werden. Ich lande auf einer Website, deren Adresse www.rizin.org lautet. Auf schwarzem Hintergrund stehen in Weiss die Zahlen Null und Eins. Ich schliesse sie sofort. Ein Reflex. Wie man die Finger wegzieht, wenn man eine heisse Herdplatte berührt. Ich denke an die Leute vom Bundesnachrichtendienst, die bei Demonstrationen herumstehen oder -sitzen. Sie sehen aus, wie man sie sich vorstellt: Sie treten auf als Pärchen oder allein. Sitzen dann auf einer Bank, tragen Sonnenbrillen mit schwarzen Gläsern und lesen Zeitung. Sie reden kein Wort. Ihre Gesichter sind verschlossen. Es liegt nur eine Empfindung auf ihnen. Anspannung. Vielleicht sitzen gerade jetzt, da ich nach Rizin recherchiere, Leute vom Bundesnachrichtendienst irgendwo an Computern, ohne Sonnenbrille zwar, aber mit dem Ausdruck dieser Anspannung. Es muss anstrengend sein, diese Anspannung zu halten. Wie lange kann so eine Anspannung gehalten werden? Vielleicht schmerzt es nach drei Stunden so sehr wie ein Bein schmerzt, das nach acht Wochen aus der Fixierung befreit wird. Wie bewegt man so ein Gesicht wieder?
Ich bin müde von der Reise im Internet auf der Spur von Rizin. Ich gebe noch einmal die Website des Schweizer Labors ein. Es ist das Hochtox-Labor des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz in Spiez. Ein Hochsicherheitslabor zur Prüfung von Schutztechnologien gegen ABC-Waffen. Ich notiere mir die Telefonnummer des Informationschefs. Ich werde ihn anrufen und nach Rizin fragen.
Es ist fünf Uhr. Nur noch wenige Streifen lichtes Grau am Himmel. Ich öffne das Fenster. Milde Luft strömt herein. Föhnluft. Bei Tageslicht könnte man von München aus die Berge sehen. Das weckt den Reflex, die Hand auszustrecken und nach ihnen zu greifen. Die Berge sind versteckt in der Dunkelheit, keine Kontur eines Bergrückens zu erkennen. Ich wecke den Mann. Er weiss nicht welcher Tag ist. Ich sage ihm, dass wir in die Stadt fahren ins ›Ganz‹, dass ich dort einen Tisch reserviert habe. Er sagt, dass er nicht essen gehen mag. Das sei ihm zu teuer. Dafür wolle er kein Geld ausgeben. Es würde mir gut tun, einfach mal raus, sage ich. Und ihm auch, füge ich hinzu, ohne vom Inhalt meiner Aussage überzeugt zu sein. Er werde nochmals in die Klinik fahren, nach dem Sohn seines Freundes sehen, er bleibe nicht lange, vielleicht könne ich etwas kochen. Wenn nicht, mache er sich selbst etwas. Ich ermittle, ob es für mich gut ist, allein ins ›Ganz‹ zu gehen. Ich lasse Gedanken dazu in mir passieren und Bilder. Die sind von solcher Art: Ich habe tagsüber gearbeitet, recherchiert, geschrieben an meinem neuen Projekt. Deshalb darf ich ins ›Ganz‹ gehen und dort speisen, mir Kalbsbraten und Süsskartoffeln von den Bedienungen mit den langen schwarzen Baumwollschürzen, die sie um die Hüfte geschlungen haben, servieren lassen. Ich stelle mir vor, dass eine Flasche Rotwein neben meinem Essen auf dem Tisch steht, der Flaschenhals abgebunden mit einem weissen Tuch und etwas von dem violett schimmernden Rotwein in meinem Glas. Für die Heimfahrt werde ich mir ein Taxi bestellen. Der Mann wird im Bett liegen und schlafen oder lesen oder allein am Tisch sitzen und essen. Ich stoppe diese Bilder und verweile bei denen mit dem gedeckten Tisch und der Rotweinflasche im ›Ganz‹. Ich wähle mein rotes Strickkleid aus und den goldenen Ring mit dem Rubinstein, schlüpfe in die hochhackigen roten Pumps. Dann ziehe ich das Strickkleid wieder aus, wähle Jeans und einen roten Strickpullover aus. Ich trage diese Sachen zum ersten Mal. Kurz bevor ich gehe, ziehe ich den roten Pullover und die roten Pumps aus, schlüpfe stattdessen in meine schwarzen Stiefel mit den Blockabsätzen und streife mir meinen grauen Strickpulli über.
8
»Goldmann, erbitte Ihren Rückruf«. Die Goldmann hat angerufen und in monotoner
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