Die Verfolgerin - Roman
Arzneimitteln, erklärt sie mir. Da verwendet man ja auch nur Gifte, aber eben in einer Menge, in der sie nicht giftig, sondern heilsam seien. Wir sind am Ammersee. Noch eine halbe Stunde Fahrt.
In der Einfahrt zum Bauernhaus watet die Tochter der Goldmann durch Pfützen. Barfuss. Sie hat sich den Daunenmantel ihrer Mutter übergezogen. Er ist beige, wie der des Chinesen in der U-Bahn mit dem erloschenen Gesicht. Was hat ihn ausgelöscht? Hat er zugesehen wie seine Frau von einem anderen Mann geliebt wurde? Ist er einfach deshalb leer, weil er allein ist, ohne Frau, Kinder, Familie, Bruder, Mutter, Vater oder jemanden anderes, für den er etwas bedeutet? Manche Menschen sind da empfindlich. Vielleicht war der Chinese dort, wo er herkam Lehrer. Ein Lehrer, dem die Kinder in der Früh etwas von zu Hause mitgebracht haben, ein selbstgemaltes Bild, einen Stein, den sie am Nachmittag beim Spielen gefunden haben und zu dem es eine Geschichte gibt, die sie dem Lehrer schnell, noch bevor die Schulglocke läutet, erzählen. Wenn der Chinese durchs Dorf geht, dann ist er für die anderen der Lehrer, und alle verneigen sich vor ihm. Vielleicht war das so.
Die Tochter der Goldmann tritt auf den Daunenmantel. Die Tochter der Goldmann heisst Suzanne. Der Daunenmantel ist zu lang für Suzanne. Sie tritt darauf. Suzanne ist 17 Jahre alt. Sie hat ihren Mund leicht geöffnet, lächelt mich kurz an. Ihr Gesicht überzieht sich mit einem entrückten Ausdruck. Die Goldmann umarmt die Tochter, redet auf sie ein, führt sie zum Haus. Ihre Stimme ist leise und weich. Weichgezeichnet wie man die Konturen auf einer Fotografie weichzeichnen kann. Der Daunenmantel, den Suzanne immer noch anhat, ist da, wo er über den Boden schleift, voll Schlamm gesogen. Wenn der Chinese heute durch die Wohnanlage geht, in der er vielleicht als Hausmeister arbeitet, dann ist er für die anderen niemand. Unsichtbar. Vielleicht. Im Haus ruft die Goldmann nach Antje. Die telefoniert. Sie bezahle sie nicht fürs Telefonieren, sondern, dass sie auf Suzu aufpasse, ruft die Goldmann mit trockener harter Stimme, die in schrille Töne abrutscht. Sie solle sofort auflegen. Während die Goldmann das Mädchen namens Antje in ihrem Büro zurechtweist, tanzt die Tochter der Goldmann in der Diele. Zu welcher Musik, weiss ich nicht, weil die Musik über Ohrstöpsel von einem iPod in ihr Ohr dringt. Vom Daunenmantel tropft braunes Wasser. Ich gebe der Tochter der Goldmann eine Tafel Schweizer Schokolade. Sie verschwindet damit in den ersten Stock. Auf dem Parkett in der Diele bleiben braune Wasserlachen. Die Goldmann sagt Antje, dass sie die gleich aufwischen soll. Ich fahre mit der S-Bahn nach Hause. Die Tochter der Goldmann darf keinen Zucker essen. Sie werde dann unruhig, hatte die Goldmann erzählt.
11
Emilia kommt. Zu mir nach Hause. Sie bringt eine Crème Caramel mit. Sie hat es angeboten, am Telefon, als ich sie einlud. Emilia kocht gern. Alte Küche, wie sie sagt. Mit Sahne und Butter. Emilia ist Professorin für Mediävistik. 76 Jahre alt. Die Haut in ihrem Gesicht ist glatt wie die einer gewaschenen Kartoffel, ebenso blass. Um ihren Kopf hüpfen rote Locken. Ihre Iris leuchtet grün. Sie hat Luchsaugen. Um die huscht Neugierde, um ihre Lippen Humor und Trotz. Und auch sonst gibt es viel Leben in ihrem Gesicht. Emilia steht in der Tür, überreicht mir die Glasform mit der Crème Caramel, sagt, dass sie diesmal nicht so gut gelungen sei. Ich habe auch Lisa eingeladen. Zu einem Essen. Die Goldmann nicht. Die Goldmann würde nicht zu einer Honorarmitarbeiterin ohne Namen zum Essen gehen. Ich habe ein Herz geschmort. Ein Kalbsherz, nach einem alten Rezept. Ich habe es zuerst ausbluten lassen. Dazu habe ich es in Salzwasser gelegt. Und dann in einem Topf in Butterschmalz geschmort. Als Vorspeise gibt es Kürbissuppe, zum Kalbsherz Kartoffelpüree und Bohnengemüse, als Nachspeise Birnenkuchen mit Schokoladensosse und Crème Caramel. Ein Mal im Jahr lade ich Emilia und Lisa zum Essen ein, weil Menschen, die man Freunde nennt, so etwas erwarten. Es tut gut, sich mal an den gedeckten Tisch zu setzen, sagt Lisa, als ich die Teller mit Kürbissuppe fülle. Ja, ist das so?, entgegnet Emilia. Sie sagt, dass sie gern allein esse und gern für sich allein ein schönes Mahl, manchmal sogar eines mit mehreren Gängen, zubereite. Sie erzählt, dass sie die gute alte Küche liebe, die aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Grossmutter ihrer Freundin habe für
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