Die Verfolgerin - Roman
Tonlage ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich rufe zurück. Ein Termin in Zürich. In der Firmenzentrale eines Pharmaunternehmens, sagt sie. Ob ich Zeit hätte. Ich frage, um was es gehe. Das wisse sie auch nicht. Wohl eine grössere Sache. Auf alle Fälle präsentiere sie schon mal Entwürfe für die neue Firmenzeitung. Ich solle ihr bis heute Abend ein Konzept vorlegen und einen Namen vorschlagen. Geld könne sie mir dafür keines geben, dafür eine Mitarbeit anbieten als freie Autorin, falls sie den Auftrag bekomme. Die Goldmann ist Inhaberin einer Werbeagentur. Die befindet sich in einem Bauernhof südlich von München. Im Erdgeschoss. Sie wohnt im ersten Stock. Mit ihrer autistischen Tochter und einem West Highland White Terrier. Der bringt jedem, der das Haus betritt, einen roten Ball und legt ihn vor seine Füsse. Wenn man auf einem Stuhl Platz genommen hat, hüpft er auf den Schoss und lässt sich kraulen. Die Goldmann redet auf den Hund ein, er solle dies nicht tun. Sie meint das nicht ernst und der Hund nimmt es nicht ernst. Die Goldmann hat eine tiefe Altstimme. Wenn sie spricht, bleibt die Tonlage ihrer Stimme auf derselben Frequenz. Sie lässt keine Höhen und Tiefen entstehen, nur laut und leise. Ich schreibe gelegentlich im Auftrag der Goldmann Sätze wie »Fast is too slow for us.« Oder: »Today, we can view distant galaxies. Which boundaries will we reach tomorrow?« Solche Sätze bringen tausendzweihundert Euro ein. Jedes Wort gut bezahlt. Ich sage der Goldmann, dass ich bereits tags zuvor in Zürich sein werde und wir uns am besten in der Firmenzentrale treffen. Am Empfang. Die Goldmann sagt, dass sie nicht wisse, ob sie am Empfang zu erreichen sein werde. Vielleicht trinke sie mit der Firmeninhaberin Kaffee. Schliesslich sei sie ihre Freundin. Oder der Prokurist lade sie zum Essen ein. Das mache er jedes Mal, wenn sie komme. Der Prokurist sei ein langjähriger Freund von ihr, er vertraue ihr alles, was es in der Firma gibt, an, auch die Sorgen mit der Unternehmerfamilie, obwohl sie selbst eng befreundet mit der Unternehmerfamilie ist. Der hat so ein grosses Vertrauen zu mir, wissen Sie, dass er mir sogar seinen Kummer mit der Familie erzählt. Sie wiederholt die Sätze mehrmals, und ich mutmasse, dass sie das tut, weil ich das grosse Vertrauen des Prokuristen in sie nicht ausreichend würdige. Deshalb wiederhole ich meine würdigenden Sätze: Ja, das ist wirklich grossartig und spricht sehr für Sie, sage ich mindestens fünf Mal. Beim fünften Mal leise und im gleichen, monotonen Tonfall wie die Goldmann spricht. Ich sage lauter und in einer höheren Tonlage, dass ich dann eben am Empfang nachfragen werde, wo sie sei. Wenn die das wissen, dann ist es ja gut, erwidert die Goldmann. Sie zieht wahrscheinlich beim letzten Satz ihre Schultern hoch, runzelt die Stirn, schaut über die Brillengläser und lässt die Mundwinkel nach unten fallen, mutmasse ich, weil die sich leicht ändernde Tonlage ihrer Stimme meist mit der Abfolge dieser Mimik verbunden ist.
9
Ich fahre mit dem Zug nach Zürich. Mir gegenüber sitzt ein älteres Ehepaar. Sie liest in einer Ökozeitung, manche Sätze laut für den Mann. Der Zug hat Verspätung. Die beiden tauschen sich laut darüber aus, ob sie ihren Anschlusszug nach Bern bekommen, als wollten sie mich absichtlich daran teilhaben lassen, was sie bewegt und warum es sie bewegt. Sie haben eine Fahrt mit dem Glacier Express gebucht und müssen den Anschlusszug nach Basel in Zürich erreichen. Die beiden zucken ratlos mit den Schultern. Im Abteil ist Unruhe. Eine junge Frau muss zum Flughafen, ihr Flug geht in anderthalb Stunden. Die Schaffnerin sagt, dass man so knapp nicht zum Flughafen fahre. Do you speak english, fragt ein Mann mit dunkler Haut, das ältere Ehepaar, das zum Glacier Express will. No, no, sagt der Mann und fuchtelt mit seinen Händen in der Luft herum, als wolle er Fliegen vertreiben. Der Zug kommt in Zürich gegen fünfzehn Uhr an, Gleis dreizehn. Ich habe noch zwei Stunden Zeit, bis ich mich mit dem Informationschef des Hochtox-Labors in der Bar des Hotels Savoy treffe. Ich bin ruhig. Wenn der Zug verspätet in Zürich einfährt, betrifft mich das nicht. Deshalb beobachte ich die aufgeregten Fahrgäste wie man einen Film im Fernsehen anschaut. Ob die Frau ihr Flugzeug bekommt und was sie tut, wenn sie es nicht mehr erreicht, erfahre ich nicht. Es sei der letzte Flieger, der am Abend geht. Wohin kann ich nicht hören. Vermutlich
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