Die Verfolgerin - Roman
eine Strasse am Zürichberg, in der Nähe des Zoos. Man muss an der Strassenbahnendstation der Linie sechs aussteigen. Ein Schild auf dem Gehsteig weist den Weg zum Geschäftssitz der FIFA. Dem folge ich. Nummer siebzehn. Das ist eine Jugendstilvilla hinter einem schmiedeeisernen Zaun und Bäumen. Neben der Pforte gibt es einen Klingelknopf, keinen Namen. Als ich den drücke, höre ich ein summendes Geräusch, es ist nicht der Türöffner. Eine Kamera schwenkt herum. Dann summt der Türöffner des Gartentors, während gleichzeitig die Haustür geöffnet wird. Eine Frau steht in der offenen Tür. Die Frau, die ich gestern Abend in der Strassenbahn gesehen habe. Sie ist anders gekleidet. Sie trägt ein graues Kostüm und eine cremefarbene Bluse. Auf ihrem Gesicht liegen Güte und Milde. Der Spott ist unter dem samtenen Schimmer ihrer Haut verborgen. Vielleicht ist es die Zwillingsschwester der Frau von gestern Abend. Vielleicht eine andere. Ich suche die Antwort in ihren Augen. Die sind mausgrau. Es blitzt kurz in ihnen auf, als habe sie mich erkannt. Sie legt beide Hände um meine rechte Hand, die ich ihr zur Begrüssung reiche. Ihre Hände sind sanft und warm. Sie führt mich in einen Raum im Erdgeschoss, eine Bibliothek mit Kamin. Es steht eine Teekanne auf einem Tisch mit Schachbrettmuster bereit. Was kann ich für Sie tun?, fragt die Frau, die ich mit Frau Poulaki anspreche. Ich brauche Rizin. Sie wissen, dass das giftig ist und man erst Tage nach der Einnahme qualvoll stirbt. Ich sage, ja. Und dass es mir nicht darum gehe. Sie fragt nicht, was ich mit darum meine. Ich sage, dass ich Schriftstellerin sei und versuche herauszufinden, wie man Rizin beschaffen kann. Sie sagt, sie verstehe. Das sei eine Recherche. Ich stimme ihr zu. Sie schenkt Tee ein. Die Starre, die ihren Körper aufrecht hielt, entweicht. Altrosa liegt auf ihren Wangen. In diesem Haus befinden sich aktuell mehr als 200 Gifte sicher verwahrt in einem Tresor. Zu jedem Gift gibt es Geschichten. Einige Gifte wurden von Regierungen für Hinrichtungen verwendet, wie Thiopental-Natrium in den USA, in den Bundesstaaten Ohio und Washington. Bei uns wird es als Narkosemittel eingesetzt. Frau Poulaki entschuldigt sich, steht auf und verlässt das Zimmer. Das ist eigentlich ein Saal mit hohen Wänden, Fenstern, die bis zum Boden reichen und ebenso langen grünen Vorhängen. Sie kommt mit einer Kristallschale voller gelber Kekse zurück, die nach Vanille duften. Sie reicht mir die Schale mit den Keksen. Die seien frisch aus dem Backofen, sagt sie und ohne zu unterbrechen: Ich habe Rizin im Haus. Im Safe bei den anderen Giften. Der Hausherr, ein bekannter Künstler, sammle seit Jahren Gifte für ein Projekt. Den Namen des Künstlers nennt sie nicht. Sie sagt, dass Rizin sein Lieblingsgift sei, warum wisse sie nicht. Eine Geschichte dazu müssten Sie erfinden. Jedenfalls können Sie Rizin in Form eines Kunstwerkes erwerben. Es ist Teil seines Projektes, dass die in sein Kunstwerk integrierten Gifte käuflich zu erwerben sind. Jenny Holzer hatte 1993 auf das Titelblatt eines Magazins mit Blut von Frauen bedruckte Karten kleben lassen. Der Hausherr startet nun eine Kunstaktion mit Giften. Natürlich anders, wie sei noch geheim. Frau Poulaki sagt, ich solle den Tee austrinken und mir noch Kekse nehmen. Sie reicht mir eine Serviette, auf die ich sie legen kann. Wir gehen in die Diele, von dort über eine Treppe in den ersten Stock. An den Wänden im Treppenhaus hängen zeitgenössische Kunstwerke, monochrome Bilder. Weisse, ein graues. Ich lese den Namen Girke. Frau Poulaki hat meine Blicke verfolgt. Es sei ein echter Girke, und die Lampen seien von Wagenfeld, einem Bauhaus-Designer. Ebenso original Bauhaus sei das Mobiliar. Ich weiss nicht, wer Girke ist oder war, und wer Wagenfeld. Weisse Bilder hängen an den Wänden im Raum im ersten Stock, in den sie mich führt. Ich lese nicht den Namen des Künstlers. Ich schaue auf den Garten hinter dem Haus. Durch die Äste der Linden, die den Garten begrenzen, schimmert ein Feld. Frau Poulaki öffnet eines der weissen Bilder, so sieht es für mich aus. Es ist kein weisses Bild, sondern satiniertes Glas in der Grösse der Bilder. Auf dem Glas ist eine Calla eingraviert. Frau Poulaki öffnet die Glasscheibe wie eine Schranktür. Dahinter befindet sich eine weisse Stahltür, und hinter der stehen Fläschchen in verschiedenen Farben und Grössen. Kunst transportiere starke Empfindungen, sagt Frau Poulaki, vor allem solche, die
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