Die Verfolgerin - Roman
Die Greisin, einst Diva, die zusammengesunken auf ihrem Bett sitzt und nicht hört, wenn Waltraud Wagner von den Kamillenblumen auf den Wiesen im Park erzählt. Die ihr Jammern nicht unterbricht, wenn Waltraud Wagner vom Säuseln des Windes berichtet und vom ersten Herbsthauch, den er mit sich trägt. Waltraud Wagner zieht an solchen Aufräumtagen ihre gestärkte Schwesterntracht an, als steige sie in einen Schutzanzug, der sie verwandelt in eine andere Person. Was sie sagt, wird getan. Sie sagt es zuerst mit Blicken. Wer die Mundspülung bekommt, kann es ihrem Blick entnehmen. Diese Blicke durchdringen das Jammern der alten Diva, lassen es erst anschwellen, dann spitze Töne daraus hervorpreschen. Waltraud Wagner hält die alte Dame fest, als sie ihr den Becher an den Mund setzt. Das Jammern gebricht in Wimmern. Waltraud Wagner giesst das Wasser in ihren Mund und hält ihr dabei die Nase zu. Sie füllt solange Wasser in die alte Diva, bis die Lungen zum Bersten voll sind. Waltraud Wagner verlässt das Zimmer. Als sie wieder zurückkommt, liegt die alte Diva ruhig auf ihrem Bett. Sie faltet ihre Hände, bleibt für einen Moment im Zimmer sitzen, lauscht der Ruhe, stellt sich vor, wie dieses Zimmer gereinigt wird, wie frische Luft hereinströmt, Sommerduft getränkt mit dem Duft von frisch gemähtem Gras mit sich bringt. Wenn alles vorbei ist, geht Waltraud Wagner ins Dienstzimmer, zieht den Aktenordner der alten Diva aus dem Schrank, vermerkt das Todesdatum unter dem Geburtsdatum auf dem Ordnerrücken und stellt ihn zu den anderen in die Ablage.
Ich bin umgezogen, vom Notplatz zu einem dieser quadratischen Tische mit Steckerleiste und Leselampe. Es ist neunzehn Uhr. Im Lesesaal sind mehrere Plätze frei geworden. Die Menschen an den Tischen sind auf die Texte konzentriert, die sie vor sich haben. Manche starren auf Formeln und Zahlenreihen, manche tippen Zahlen in Taschenrechner, manche beschriften Karteikärtchen und markieren Text mit gelbem, rotem, orangem Textmarker. Ich schliesse die Augen und höre nur auf die Geräusche. Der Ort, an dem ich mich befinde, könnte auch ein Spielcasino sein. Im Spielcasino ist das Klicken der Jetons zu hören, das Rollen der Kugel, ihr Klacken, wenn sie über die Zahlenkästchen huscht. Im Spielcasino ist der Atem der Herumstehenden zu hören, wenn sie ihn ausströmen lassen, vermischt mit Tönen der Freude oder Enttäuschung. Im Lesesaal klacken die Tasten der Laptops, sind das Rutschen der Stühle und die dumpfen Tritte der Vorbeilaufenden auf Teppichboden zu hören. Hier und da eine leise Melodie vom Handy oder ein kurzer Piep. Die Leselampen auf den Tischen sehen aus wie Weihnachtsbeleuchtung. Es riecht nach Seife. Nach dieser rosa Flüssigseife, die es auf der Toilette gibt. Die hat die Konsistenz von Sperma. Ich brauche eine Pause und verlasse den Lesesaal. Im Erdgeschoss sitzen Studenten auf Fensterbrettern. Sie essen eine Banane, ein Brot, einen Apfel, trinken Wasser oder Kaffee. Aus Pappbechern. Coffee to go gibt es im U-Bahnhof ›Universität‹, am Ausgang, der direkt in die juristische Bibliothek führt. Ich laufe zweihundert Meter gegen Regen, Kälte und Wind an. Die Gesichter, in die ich unterwegs schaue, sehen aus, als würden sie kurz aus einem See auftauchen, Luft holen, gleich wieder abtauchen und weiterschwimmen. Ich laufe schnell zurück mit dem coffee to go in der Hand. Schnell, damit er nicht abkühlt.
Nur noch wenige Leselampen sind an. Die Lesenden sind mehrmals über Lautsprecher aufgefordert worden, den Lesesaal zu verlassen. Die Bibliothek schliesst um Mitternacht. Die Frau, die neben mir sitzt, hat ihr Schreibheft auf meinen Arbeitsplatz geschoben. Sie notiert sich etwas in ihrem Buch, das mit gelben Haftnotizzetteln vollgeklebt ist. Unauffällig kann sie lesen, was ich mir notiere. Ich verwende Gift, wie die anderen Frauen, steht auf meinem Block. Wir lächeln uns an. Ich packe meine Bücher zusammen, schaffe sie zurück zu den Regalen. Platziere sie unter der Benutzernummer. Alle tun das. Es sind nicht mehr viele da. Vielleicht fünfzig Menschen. Wir gehen durch das Foyer, vorbei an den diensthabenden Bibliothekaren, die kontrollieren, was wir in den Händen haben.
In der U-Bahn auf dem Weg nach Hause entdecke ich einen Mann, der für mein Vorhaben in Frage kommt. Ein Asiate. Vielleicht Chinese. Er ist in einen beigen Daunenmantel gehüllt. Der reicht ihm bis zu den Fussknöcheln. Er trägt Turnschuhe. Er sieht müde aus. Seine Augen sind rot
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