Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verfolgerin - Roman

Die Verfolgerin - Roman

Titel: Die Verfolgerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: edition 8
Vom Netzwerk:
unterlaufen. Sein Gesicht ist hager und gelb, als hätte er Gelbsucht. Warum er für mein Vorhaben in Frage kommt? Weil ich keine Spuren von Empfindungen in seinem Gesicht sehe. Keine Spur von Wut, Angst, Enttäuschung, Lachen, Schmunzeln. Alles erloschen. Gelöscht, wie man Daten von einer Festplatte löscht. Nur noch der Hauch von einer Spur, aber trotz mehrmaliger Returnversuche keine verwertbare Datei mehr. Nicht eine.

6
    Der Mann ist erst in der Früh nach Hause gekommen. Gegen acht Uhr. Eine Notoperation. Der Sohn eines Kollegen. Zusammengebrochen. Kardiomyopathie. Einzige Rettung künstliches Herz. Er sagt das genau so. Dabei stützt er sich auf die Arbeitsplatte in der Küche, lässt den Kopf hängen und hechelt wie ein Marathonläufer, der gerade ins Ziel eingelaufen ist. Das Gesicht des Mannes ist grau, die Wangen sind eingefallen, die Mundwinkel nach unten gezogen, auf der Stirn zwei Falten. Der Mann sagt, dass er vorhin auf dem Rückweg aus der Klinik angehalten hat, in den Wald gelaufen sei, gejoggt ist, dann auf einem Bootssteg gesessen habe und jetzt duschen werde. Ich solle ihm ein Frühstück bereiten. Etwas Leichtes. Ich presse Orangen aus, koche ein Ei, vier Minuten, toaste weisses Brot, stelle Honig auf den Tisch, eine Kanne schwarzen Kaffee. Ein breiter Lichtstrahl liegt auf dem Tisch. Das Sonnenlicht vergoldet das Ei, die Orangen, den Toast und die Kaffeekanne, selbst den Honig. Golden schimmerten die Haare des Mannes, wenn wir Skifahren waren und die Mittagssonne hindurchschien. Wir waren in den ersten beiden Wintern, nachdem wir uns kennengelernt hatten, oft Skifahren in den Bergen um seinen Heimatort Dorf. Der Mann lachte und strahlte, bevor er sich in die Abfahrten schwang, als sei er in Licht getaucht. Seine Lippen hatte er mit einer weissen Fettcreme eingeschmiert. Sie sahen aus, als seien sie mit Raureif überzogen. Ja, das ist jetzt genau das Richtige, sagt er, als er aus der Dusche kommt und sich an den Tisch setzt. Die Welt sehe gleich wieder viel besser aus. Er lacht mich an. Das Lachen verzerrt sein Gesicht. In den Gesichtspartien um seine Augen steckt Anspannung. Ich weiss nicht, ob ich ebenfalls lachen oder etwas sagen soll. Er streichelt mir über die Wange, wie man einem Kind über die Wange streichelt. Er sagt: Lach doch mal. Ich kann nicht lachen. Er holt tief Luft, schenkt sich Kaffee ein, nimmt sich einen Toast, bestreicht ihn mit Butter, träufelt Honig darüber. Er sagt dabei: Du bist immer so ernst. Du musst mehr lachen. Probier es doch einfach mal aus. Du musst keine Angst davor haben. Lachen macht schön. Er lacht mir erneut ins Gesicht. Dazu beugt er sich vor und dreht den Kopf nach rechts, um mein Gesicht überhaupt sehen zu können. Tiefe Falten ziehen sich von den Mundwinkeln über seine Wangen. Seine Haut ist immer noch grau. Seine eisblauen Augen lachen nicht. Sie sind trüb. Ich weiss nicht, was ich sagen oder tun soll. Ich denke an die Mai-Ling-Geschichte. Es war unser erster Winter. Der Mann nahm mich zu einer Weihnachtsfeier mit, stellte mich seinen Kollegen vor. Er sagte ihnen, dass ich auch schon etwas Bairisch könne, obwohl ich aus dem Norden käme. Er schaute auf mich herab – so habe ich es in Erinnerung, der Mann ist tatsächlich nur wenige Zentimeter grösser als ich – und sagte: Nun Mai Ling, sag doch mal was auf Bairisch.
    Der Mann nimmt sich einen zweiten Toast. Ich sage ihm, woran ich gerade denke. Das erscheint mir am einfachsten. Ich erzähle ihm die Mai-Ling-Geschichte. Der Mann sagt, dass ich damals noch so nett gelacht habe. Ich sage, dass ich nicht gelacht habe, sondern am liebsten davongelaufen wäre. Ich sage, dass ich mich geschämt habe. Was? Der Mann dehnt das ›a‹ im Wort was. Geschämt hast du dich? Er steht auf. Er müsse sich nun etwas hinlegen. Ich solle ihn gegen drei Uhr wecken, spätestens.

7
    Gifte unterliegen dem Wandel der Zeit. Blausäure, Arsen, Zyankali, all die namhaften Gifte sind heute aus der Mode gekommen. Zu auffällig. Der Geruch. Die Wirkungsweise. Beliebt seien heute Herzkreislaufmittel, Morphium, Rizin, Metalle wie Polonium und Thallium, lese ich in einem Interview mit einem Toxikologen. Ich brauche ein Gift, das sich für meine Zwecke eignet. Ich verfolge als Verfolgerin ausgewählte Menschen in den U-Bahnen, auf den Strassen, Plätzen, um sie unauffällig im Vorübergehen zu töten. Das Gift muss sich leicht injizieren lassen, durch die Kleidungsstücke hindurch, einfach so im Vorübergehen. Luft ist

Weitere Kostenlose Bücher