Die Verfuehrung Des Ritters
wusste, als sie je über ihren Bruder, ihren Vater oder einen ihrer Freunde wusste, die sie seit Jahren kannte?
»Ich würde Wind schrecklich vermissen, wenn ich ihn nicht mehr hätte«, sagte sie leise. »Es gibt Dinge, die kann man nicht ersetzen.«
»Ja, die gibt es«, stimmte er ihr zu. Seine Stimme klang tief und rau.
Gwyn biss sich auf die Lippen und starrte nachdenklich auf die Felle. Eine Zeitlang sagte niemand etwas, und die Stille war so beständig wie dieser Mann. Sie hatte gar nicht das Bedürfnis, das Schweigen mit sinnlosem Geplapper zu unterbrechen.
Als er sich vorbeugte und Gwyn ansah, schienen seine grauen Augen die Dunkelheit zum Brennen zu bringen. »Eines müsst Ihr mir noch erzählen, Rabenmädchen.«
»Was?«
»Erzählt mir von Eurem Zuhause. Ich war so lange nicht mehr daheim, dass es gut tut, von einem geliebten Ort zu hören.«
Sein Gesicht war im schwachen Licht, das von dem Kohlenbecken abstrahlte, kaum zu erkennen. Durch die Fensterläden drang das Licht der Blitze nur noch schwach herein. Gwyn konnte nur den Becher sehen, den er in den Händen hielt. Er hatte den dunklen Kopf zur Seite geneigt und sah sie unverwandt an.
Er brannte für sie und konnte sich kaum zurückhalten. Gwyn wusste, dass sie ihrem Schicksal begegnet war. Mit diesem Mann, das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers, würde etwas passieren. Wie ein griechischer Gott ritt er auf der brandenden Flut eines Schicksals, dem er nicht entgehen konnte. Sein ganzes Sein strebte nach unbarmherziger, rücksichtsloser Erfüllung.
Er hat meinen Schmerz zum Schweigen gebracht.
Die Gewissheit überkam Gwyn wie eine wärmende Welle. Sie setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich habe den Schreiber meines Vaters einmal dazu überredet, mit mir ein Stück am Hadrianswall entlangzugehen. Es war ein langes Stück, und wir waren müde, als wir nach Hause kamen.«
Ein schwaches Lächeln umspielte seinen Mund. »Ein Spaziergang entlang der schottischen Grenze. Ihr seid eine Frau mit Überzeugungskraft.«
»Ein Mädchen mit Überzeugungskraft. Damals war ich zehn.«
Sein Lächeln wurde breiter, und er hob seinen Becher, um ihr zuzutrinken.
»Papa war sehr wütend, als ich zurückkam.«
»Zweifellos. Wie lange wart Ihr fort?«
»Drei Tage.«
Er lachte. Das Donnergrollen und das Rauschen des Regens übertönten sein Lachen, aber Gwyn hörte es dennoch, und es durchströmte sie warm.
Wenn es ihr schon eine so tiefe Zufriedenheit bescherte, ihn zum Lachen zu bringen, wie wäre es dann erst, ihn zu lieben?
Der Gedanke erschreckte sie so sehr, dass sie fast aus dem Bett gefallen wäre.
»Bis an welche anderen Grenzen zu gehen hat Euer Herz Euch noch gedrängt, Rabenmädchen?«
Ihr Kopf sank zurück auf das Kissen. Tränen kitzelten in ihrer Nase. Er verstand sie nicht. Er konnte es nicht verstehen. Niemand hatte es verstanden.
»Sagt es mir, Rabenmädchen.«
Und sie tat es. Sie sprach darüber, weil die Nacht dunkel war und weil sie nicht wusste, wo sie war. Sie erzählte davon, weil sie eine Atempause brauchte, mochte sie auch noch so kurz sein, eine Atempause von dem alles verschlingenden Schmerz.
Und dieser Mann war der einzige Mensch, bei dem sie je Ruhe gefunden hatte, auch wenn das noch so verrückt klang.
Gwyn redete, weil er sie reden hören wollte, und seinen Schmerz zu lindern war eine Herzensfreude, wie sie sie noch nie zuvor empfunden hatte.
Und die Geständnisse, die Gwyn in dieser sturmgepeitschten Nacht ablegte, waren so völlig anders als das, was sie ihrem Retter während des Ritts durch den Wald anvertraut hatte. Auch jene Dinge hatten ihm etwas über sie verraten, aber es waren eher Kleinigkeiten gewesen, die sich auf alltägliche Ereignisse bezogen hatten, Dinge, die etwas hätten bedeuten können, ihr aber nichts bedeuteten.
Die Dinge hingegen, die sie ihm in der Dunkelheit der Schlafkammer gestand, waren so tief in ihr verborgen, dass sie glaubte, sie aus den Tiefen ihrer Seele herausgraben zu müssen.
Sie erzählte von Windstalker und ihren nächtlichen Ritten, davon, dass sie in stürmischen Nächten auf die Wehrgänge der Burg hinaufgegangen war, wenn alle anderen schon geschlafen hatten. Wie sie gegen allein gegen die Einsamkeit angekämpft
und manchmal gefürchtet hatte, sich selbst zu verlieren. Sie sprach davon, wie schwierig es für sie war, eine Burg zu bewirtschaften, wie schwer es war, gleichzeitig fürsorgliche Burgherrin und Kriegsherr zu sein. Wie sie in den
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