Die Verfuehrung Des Ritters
Gwyn sich den schmalen, feuchten Gang entlang. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als ihre Finger etwas Schleimig-Glitschiges berührten. Aber sie durfte die Hand nicht von der Wand lösen, denn dann würde sie direkt dagegen-laufen. Es war so stockfinster, dass sie nichts sehen konnte und sie in der Dunkelheit förmlich ertrank.
Jedes Mal, wenn der Stein vor ihrer Hand zurückwich und ihre Finger plötzlich auf nichts als Luft stießen, passierten sie die Tür zu einer Kammer. Ein kalter Lufthauch, der tief aus den Eingeweiden der Burg aufstieg, strich über ihr Gesicht. Gwyn ging an den Öffnungen vorbei und trieb die Männer mit einem heiseren Flüstern und einem Winken, das die beiden gar nicht sehen konnten, zur Eile an.
»Langsam, Mylady!«, befahl Adam von Gloucester leise. Es fiel ihr schwer, stehen zu bleiben und zu warten. Sie glaubte, die Wände kämen ihr immer näher. All die Ungeheuer, die sie sich als Kind vorgestellt hatte, kamen ihr wieder in den Sinn und flatterten unheimlich heulend mit ihren dunklen Schwingen über ihren Kopf hinweg.
Du lieber Gott, wie hatte sie hier unten spielen können? Früher war sie oft mit Jerv und den anderen hier herumgeschlichen. Waren sie verrückt gewesen? Papa hatte nie gewollt, dass sie in den Kellern spielte, und jetzt wusste sie auch, warum. Weil die Geister einen verfolgten.
Sie erreichten eine Stelle, an der mehrere Gänge sich kreuzten. Irgendwo über ihren Köpfen drang Licht in das Kellergewölbe ein. Sie gingen geradeaus weiter und gelangten zu den Vorratskammern der Burg.
Gwyn wandte sich zu den Männern um und bedeutete ihnen, still zu sein. Die beiden blieben sofort stehen. Gwyn erkannte die dunkle Last, die Adam von Gloucester sich über die Schulter geworfen hatte. Als er ihren Blick erwiderte, schimmerten seine Augen hell. Sie schienen das einzige Licht an diesem dunklen, unergründlichen Ort zu sein.
Der Gang, durch den sie gekommen waren, endete hier und stieß auf einen anderen, der sich zu ihrer Linken erstreckte. Das Rauschen des Flusses war hier lauter zu hören. Gwyn wusste von dem unterirdischen Fluss, der an dieser Stelle unter der Burg dahinfloss, ehe er einen Knick machte und einem unbekannten Ziel entgegenströmte.
Vor ihnen erhob sich ein Torbogen, der direkt zu dem Gang mit den Vorratskammern führte. Hier stapelten sich in guten Zeiten Getreide-und Weinfässer und Waffen. Aber jetzt waren die meisten Kammern leer. Gwyn hatte seit vielen Wochen keinen Diener mehr nach unten geschickt. Warum auch? Um die leere Waffenkammer zu bewachen? Oder um ein leeres Weinfass zu holen?
Trotzdem schien ihr eine der leeren, ungenutzten Kammern nicht der sicherste Ort für den Prinzen zu sein. Die Kammern hatten keine Türen, nichts, das ihm Schutz bot. Es würde schon genügen, wenn ein Hund sich hier herumtrieb und anschlug.
Dann wäre alles vorbei.
Deshalb blieb nur eine letzte Möglichkeit.
Gwyn nahm von einem Regal im Gang eine Lampe, entzündete sie mit dem Feuerstein, der danebenlag, und wandte sich nach rechts.
Sie folgten einem schmalen Gang, der aussah, als habe man begonnen, ihn in den Fels zu graben, aber schon bald die Vergeblichkeit dieses Unterfangens eingesehen.
Sie kamen zu einer kleinen, aus dem Stein gehauenen Bank, neben der sich eine Tür befand. Eine große Tür, die am Ende dieses dunklen Gangs, der nirgendwo hinführte, fast unsichtbar war und den Eindruck machte, als sollte man sie nicht finden. Zumal sie mit einem Schloss gesichert war, das so groß wie eine Faust und der Form eines Drachenkopfs nachempfunden war.
Sonst erschauerte Gwyn immer und eilte schnell an dieser Tür vorbei, aber jetzt ging sie entschlossen darauf zu. Mit eiskalten, zitternden Fingern riss sie die Innentasche auf, die in ihr Kleid genäht war, und zog den kleinen vergoldeten Schlüssel heraus.
Ihr Herz schlug schneller, als sie den Schlüssel in das Drachenmaul schob. Staub wirbelte auf, und es sah aus, als würde Rauch aus den eisernen Nasenlöchern aufsteigen. Gwyn drehte den Schlüssel herum. Etwas klickte. Der Schlüssel ließ sich leicht bewegen, und das Vorhängeschloss sprang auf. Das Maul des Drachen öffnete sich weit.
Mit diesem Schlüssel ließ sich also doch eine Tür öffnen.
»Kommt!«, rief sie Adam leise zu.
Hinter der Tür verbarg sich eine einfache Vorratskammer, die all den anderen glich: Steinwände, von denen die Stimmen widerhallten. Es war kalt. Warum nur hatte sie sich immer davor gescheut, diese Tür zu
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