Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
ihr eines Ende verschloss. Rodraeg hatte es sich nicht nehmen lassen, Kinjo zu dieser Haut hin einen Pfad durch das auch hier überall verteilte Netz zu bahnen, sodass Kinjo nicht klebrig waten musste, sondern würdevoll schreiten konnte. Bei diesem Freischneiden einer schmalen Rinne war Rodraeg sich so vorgekommen, wie Naenn sich selbst und auch ihn immerzu hatte sehen wollen: als Wegbereiter eines direkten Kontaktes zu den Göttern.
    Es war sehr seltsam. Das Schlagen dieser Trommel schien eine viel offiziellere Götteranrufung zu sein als Rodraegs zwei Begegnungen mit Delphior am Lairon See und auf dem berauschten Berg. Diese ersten beiden waren so unerwartet und verschleiert gewesen, dass Rodraeg lange Zeit gar nicht hatte erfassen können, worum es eigentlich ging.
    Mittlerweile zweifelte er nicht mehr daran, dass er tatsächlich Delphior begegnet war und sich ausführlich mit ihm unterhalten hatte. Er wusste nur nicht mehr, ob »Gott« die passende Bezeichnung für jemanden war, mit dem man auf Augenhöhe sprechen konnte. Vielleicht waren die Götter tatsächlich nichts anderes als besonders machtvolle Magier, die die Gabe besaßen, zwischen Welten zu wandeln. Vielleicht waren die Zehn, die auf dem Kontinent das Erbe der Götter fortführen wollten – unter ihnen Riban Leribin, Zarvuer und die Gezeitenfrau aus Wandry – dem wahren Gottsein bereits näher gewesen, als sie selbst das jemals für möglich gehalten hatten. Vielleicht gab es keine Götter, und Naenn hatte unrecht. Vielleicht war aber jeder, und nicht nur jeder Mensch, sondern auch jede Ameise, ein Gott, und Naenn hatte mehr recht, als sie ahnte.
    Kinjo trat an die gut drei Mannslängen durchmessende, kreisrund gespannte Haut heran. Es war nicht zu erkennen, ob die Haut von einem einzigen unvorstellbaren Tier stammte oder ob die Kenekenkelu sie kunstvoll aus den Häuten mehrerer Wesen zusammengefügt hatten. Es war nicht einmal zu erkennen, ob es Tier- oder Menschenhaut war. Aber davon wollte sich jetzt auch niemand stören lassen.
    Kinjo hob den Blick zum Himmel, der klar und kalt aussah und dennoch Hitze verströmte wie ein glühender Stein. »Delphior«, sagte er mit einer Stimme, die zuerst wackelig klang und dann zunehmend fester wurde, »wie du es uns aufgetragen hast, haben wir die Bago von ihrem ungebetenen Gast befreit und werden sie nun ertönen lassen. Gewähre uns dafür den vom Wald ersehnten Regen!« Er holte aus und schlug beidhändig mit dem verdickten Ende des kurzen Stabes die Trommel.
    Ein unglaubliches Dröhnen erklang. Ein Geräusch fast wie ein Donner, der weithin widerhallte und noch lange nachschwang. Bestar verlor beinahe den Boden unter den Füßen, Tjarka und Tegden hielten sich erschrocken die Ohren zu. Rodraeg spürte, wie sämtliche Sehnen seines Leibes ebenfalls zu schwingen begannen. Er blickte zu Onouk hinüber. Sie lächelte beglückt.
    Kinjo zitterte leicht in Knien und Händen. »Weiter!«, forderte Ijugis lachend. »Mehr! Schlag einen gleichmäßigen Takt! Lass es donnern, Junge!«
    Kinjo fasste sich ein Herz und schlug wieder zu. BOMMMMMM ! Und noch mal. BOMMMMMM ! Und erneut. BOMMMMMMM ! Schließlich wurde ein Takt daraus. BOMMMMMM-BOMMMMMM-BOMMMMMM-BOMMMMMM-BOMMMMMM-BOMMMMMM . Ein gleichmäßiges, sich selbst unaufhörlich verstärkendes Dröhnen, das den gesamten Wald bis ins Mark zu erschüttern schien. Außer Tegden und Migal, der ohnehin bereits saß, verloren nun alle den Halt unter ihren Füßen und fielen mehr oder weniger weich ins Netz. Ijugis lachte dabei wie von Krämpfen geschüttelt. Tjarka bekam es richtig mit der Angst zu tun. Ein Donner in solcher Nähe weckte in ihr als Naturkind die urtümliche Furcht vor einem unmittelbar einschlagenden Blitz.
    Rodraeg war begeistert und entsetzt in gleichem Maße. Noch niemals zuvor hatte er einen solchen Lärm gehört, aber auch noch niemals zuvor solche kribbelnden Empfindungen in Bauch, Magen, Zwerchfell und Fingerspitzen verspürt. Es war, als würde er sich mit Energie aufladen. Mit magischer Energie.
    Wind kam auf. Wind, der womöglich tatsächlich nur durch Kinjos Schläge aus dem Körper der Trommel nach hinten gischtete. Der Himmel begann sich zu verändern, aber Rodraeg fragte sich, ob es nicht seine Augen waren, die sich in den Höhlen drehten und ihm einen Streich spielten.
    Kinjo donnerte

Weitere Kostenlose Bücher