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Die vergessene Insel

Die vergessene Insel

Titel: Die vergessene Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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dem
Hemd hervor, den er an einer Kette um den Hals trug.
»Und das hier«, sagte er.
Paul beugte sich neugierig vor, nahm das Amulett in
die Hand und betrachtete es sehr lange und sehr interessiert.
Mike ließ ihn gewähren. Auch er hatte den Anhänger
in den letzten Wochen unzählige Male angesehen schließlich war Pauls Überlegung nicht so weit hergeholt, daß nicht auch er und die anderen darauf gekommen wären, in diesem Amulett den Schlüssel zu
vermuten, hinter dem Winterfeld her war.
Aber das konnte nicht sein. Das Amulett enthielt kein
Geheimfach, keine
verschlüsselte Botschaft, keine
Schriftzeichen, nichts. Es war ein unglaublich kunstfertiges Stück Goldschmiedearbeit, das die sechsarmige Göttin Kali darstellte - ein durchaus gängiges Motiv der indischen Mythologie -, nicht mehr und nicht
weniger.
Schließlich ließ Paul das Amulett wieder sinken und
schüttelte den Kopf. »Wenn das Ding irgend etwas zu
bedeuten hat«, sagte er enttäuscht, »dann ist diese Bedeutung wirklich gut getarnt.«
Mike verstaute das Amulett wieder
unter
seinem
Hemd, aber er kam nicht mehr dazu, zu antworten.
Draußen auf dem Gang erscholl plötzlich ein halblauter, krächzender Schrei, und eine Sekunde später polterte etwas schwer gegen die geschlossene Tür. Paul
sah überrascht hoch, während Mike aufstand, zur Tür
ging und mit klopfendem Herzen einen Schritt davor
stehenblieb. Es war fünf Minuten vor eins.
»Was ist denn los?« fragte Paul flüsternd.
Bevor Mike antworten konnte, wurde die Tür aufgerissenund er vermochte nur noch mit Mühe einen
Schrei zu unterdrücken!
Einer der beiden Soldaten, die draußen auf dem Gang
Wache hielten, taumelte ihm entgegen. Sein Hals und
das Hemd waren blutüberströmt. Auf seinem Gesicht
lag ein ungläubiger Ausdruck, und sein Mund war
weit geöffnet, wie zu einem Schrei. Aber er bekam
keinen Laut über die Lippen. Torkelnd näherte er
sich Mike, streckte die Hände nach ihm aus und sank
in die Knie, ehe er ihn erreichen konnte.
Mike machte einen erschrockenen Schritt zur Seite,
als der Soldat zusammenbrach. Er schlug mit einem
dumpfen Laut auf dem metallenen Boden auf und
rührte sich nicht mehr. Unter seinem Gesicht begann
sich rasch eine dunkle, glitzernde Lache zu bilden.
»Was zum Teufel geht hier vor?« keuchte Paul. Mike
hörte, wie er von seinem Stuhl aufsprang, drehte sich
aber nicht zu ihm herum. Der Blick seiner entsetzt
aufgerissenen Augen war auf den zweiten, reglosen
Körper draußen auf dem Gang gerichtet. Der Soldat
lag auf dem Rücken, und auch sein Hals und das
Hemd darunter waren rot. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.
Sein Mörder stand mit gespreizten Beinen über ihm.
Er trug nicht mehr die Matrosenuniform, in der Mike
ihn auch am Morgen gesehen hatte, sondern ein weites Gewand und einen kunstvoll gewickelten Turban,
unter dem ein rabenschwarzer Pferdeschwanz bis
weit über seine Schultern herabhing. In der rechten
Hand hielt er den Dolch, mit dem er die beiden Wachen getötet hatte.
»Was -?« begann Mike, wurde aber sofort von dem
Fremden unterbrochen.
»Still!« zischte er. »Zum Reden ist jetzt keine Zeit! Wir
müssen weg! Wo sind die anderen?«
Mike deutete auf die gegenüberliegende Tür, und der
Mann fuhr mit einer katzenhaften Bewegung herum
und öffnete sie. Mike hörte einen überraschten Ausruf
in dem Raum auf der anderen Seite, und der Mann
antwortete wohl auch, aber er verstand die Worte
nicht. Wie hypnotisiert starrte er abwechselnd die beiden Toten an. Er fühlte einen eisigen Schrecken, der
alles überstieg, was er jemals empfunden hatte; selbst
die Todesangst, als er damals im Hafen beinahe ertrunken wäre.
Es war das erste Mal, daß Mike so direkt mit dem Tod
konfrontiert wurde. Er hatte tote Tiere gesehen und
vom Tod von Menschen gehört und gelesen - aber er
hatte sich noch nie einer Leiche gegenübergesehen.
Die beiden Männer waren tot - sie waren ermordet
worden, vor seinen Augen und wohl auch irgendwie
seinetwegen. Zweifelsfrei waren diese beiden Soldaten
seine Feinde gewesen, die vielleicht nicht einmal gezögert hätten, ihn und die anderen umzubringen, hätten
    sie den Befehl dazu erhalten, und doch erschütterte
Mike ihr Anblick zutiefst. Der Fremde, der gekommen
war, um ihn zu retten, hatte sie seinetwegen getötet.
Ebensogut hätte er selbst ein Messer nehmen und ihnen die Kehle durchschneiden können.
Auf dem Gang wurde es wieder laut, als der Fremde
in Begleitung Juans und der beiden anderen zurückkam. Einer der drei

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