Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
hinaufstiegen, ohne langsamer zu werden. Das Laubwerk war sehr dicht; ständig schlugen ihr nasse Blätter gegen die Haut. Sie genoss es, sich einer so wichtigen Aufgabe zu stellen und unter Zeitdruck zu physischer Höchstleistung aufzulaufen. Es schien, dass ihre gesamte Ausbildung in dieser Situation zum Tragen kam.
Was tun sie im Heiligen Tal?, fragte sie sich.
Unten sah sie wieder den Blauäugigen und seinen Gefährten. Viele Männer hatten sich erträumt, Vilcabamba zu finden, aber keiner war in seine Nähe gelangt, ohne getötet worden zu sein. In jüngster Zeit wurden Eindringlinge allerdings mit dem Saft eines bestimmten Baums betäubt und dann an einen anderen Ort gebracht. Viele Forscher waren zehntausend Schritte entfernt wieder aufgewacht und hatten es nicht einmal bemerkt. Das war der Grund, weshalb die schneebedeckten Berge zwischen dem Apurimac und dem Urubamba auf keiner Karte zu finden waren.
Als Antonio Raimondi 1875 die peruanischen Berge erkundete, wurde er in diesem Tal betäubt und fortgebracht, ohne dass es ihm auffiel. Seine berühmte Karte wies Vilcabamba und die umliegenden Berge, Gletscher und Flüsse daher nicht aus. Diese List hatten sich die Kriegerinnen ausgedacht. Mamacona Kay Pacha hatte Raimondi mit der Giftnadel gestochen und die Verlegung seines kompletten Lagers vom Zelt bis zum Suppenlöffel befohlen.
Nun war es an Aclla, ihrem Beispiel zu folgen und das Heilige Tal vor Eindringlingen zu schützen. Sie hatte recht daran getan, ihre Kriegerinnen aus Cusco zu führen, nachdem sie den Namen Vilcabamba auf dem Zettel an Binghams Tür gelesen hatten.
Es war ihr schwergefallen, Cusco zu verlassen, ohne zu wissen, ob ihre Schwester tot war oder noch lebte. Dies herauszufinden würde warten müssen. Sofern sie noch lebte, würde Vivane verstehen, dass der Schutz des Heiligen Tals über alles ging, und genauso handeln.
Aclla war nur drei Schritte hinter Sontane. Inzwischen war schon die anschwellende Stimme des Großen Redners zu hören, der durch die enge Schlucht brauste und mehr Wasser führte als sonst zur Regenzeit. Es war, als wollte er sie warnen; sie hatte den Fluss noch nie so laut erlebt. Im Blätterwerk tat sich eine weitere Lücke auf, und Aclla konnte die weißen Männer im Tal sehen. Ihr Blick verweilte für einen Augenblick, als würde die Zeit plötzlich stillstehen. Sontane machte zwei kurze Schritte und sprang von einem Felsvorsprung. Doch Aclla, die noch abgelenkt war, kam aus dem Tritt und traf einen lockeren Stein. Sie wusste sofort, dass sie stürzen würde, bekam den Felsen neben sich zu fassen und trat den lockeren Stein aus dem Erdreich, als sie versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden. Dann hing sie mit den Füßen in der Luft.
Es war nicht das erste Mal, dass Aclla beim Lauf durch den Wald aus dem Tritt gekommen war. Einmal war sie mit Sontane plötzlich einem großen Jaguarweibchen mit seinen Jungen begegnet, sodass sie Hals über Kopf hatten fliehen müssen. Nur ihre unglaubliche Schnelligkeit und Technik, die sie von Kindesbeinen an trainierten, hatte ihnen das Leben gerettet. Und jetzt dieses Missgeschick. Aclla spannte sämtliche Muskeln an, sprang von der Steilwand weg, griff nach einem Ast, schwang sich aufwärts und landete auf einem schmalen Erdsims, der kaum so breit war wie sie selbst. Hinter sich hörte sie Steine zu Tal poltern, während sie versuchte, Halt zu gewinnen. Aber das war unmöglich, und so sprang sie an der fast senkrechten Wand hinunter. Sontane hatte den Sturz ihrer Partnerin bemerkt und kehrte um. Sie nahmen Blickkontakt auf. Aclla flog durch die Luft und prallte gegen den Hang; zugleich streckte Sontane, ein Knie auf dem Felsboden, den Arm aus und bekam Acllas Handgelenk zu fassen. Welche Erleichterung für Aclla, die starke Hand zu spüren, während sie keinen Halt mehr unter den Füßen hatte.
Aber sie rutschte in Sontanes Fingern.
Derweil fielen mehr Steine ins Tal hinab. Plötzlich waren Polix und Sepla da, bekamen Aclla zu fassen und zogen sie in Sicherheit. Aber der Schaden war angerichtet. Durch die Bäume konnte sie sehen, wie der Blauäugige zu ihnen heraufspähte. Es war unmöglich zu sagen, was er gesehen hatte. Sicher war jedoch, dass er nun von ihrer Anwesenheit wusste.
17.
A NDEN , P ERU
74 K ILOMETER NORDWESTLICH VON C USCO
O RTSZEIT : 16.04 U HR
17. J ANUAR 1908
Über dem grünen Dickicht der Talmündung stiegen Gischtwolken über dem Urubamba auf und blieben zwischen den hohen Felsen gefangen. Wenn
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