Die Vergessene Welt
Nachdem wir die
Hälfte davon den Indianern gegeben hatten, kochten wir
unsere Hälfte auf dem Feuer. Die Luft war nach Einbruch der
Dunkelheit kühl, und wir waren alle nahe an die Flammen
gerückt. Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber im
Schein der Sterne konnte man die Ebene ein kleines Stück weit
überblicken. Plötzlich stieß etwas Riesiges schwirrend aus
der Dunkelheit hernieder. Unsere Gruppe saß für einen
Augenblick unter einem Baldachin aus ledernen Flügeln. Ich
hatte eine blitzartige Vision von einem langen, schlangenartigen
Hals, einem wilden, gierigen, roten Auge und einem großen,
zuschnappenden Schnabel, der zu meiner Überraschung mit
kleinen, blinkenden Zähnen besetzt war. Im nächsten
Augenblick war das unheimliche Wesen wieder fort – und mit
ihm unsere Mahlzeit. Ein gewaltiger schwarzer Schatten von
zwanzig Fuß Durchmesser schwang sich in die Luft hinauf.
Einen Moment lang verdeckten die ungeheuren Flügel die
Sterne, und dann verschwand es hinter dem Rand der Klippen
über uns. Wir alle saßen wie erstarrt da und blickten uns
erschrocken an. Summerlee fand als erster die Sprache wieder.
»Professor Challenger«, sagte er mit feierlicher Stimme,
»ich muß Sie um Verzeihung bitten. Ich war sehr im Unrecht,
und ich bitte Sie, das Vergangene zu vergessen.«
Die beiden Männer reichten sich zum erstenmal die Hand,
was
dem
Erscheinen
unseres
ersten
Pterodactylos
zuzuschreiben war. Zwei solche Männer zusammenzuführen,
war wohl mit einem gestohlenen Abendessen nicht zu teuer
bezahlt.
§
Aber das vorgeschichtliche Leben, dessen Existenz auf dem
Plateau für uns nun erwiesen war, konnte keineswegs im
Überfluß vorhanden sein. Während der nächsten drei Tage
bekamen wir nichts mehr davon zu Gesicht. In dieser Zeit
durchquerten wir eine unfruchtbare und öde Gegend auf der
Nord- und Ostseite der Klippen, die teils aus Felswüste, teils
aus einsamen Moorflächen voller Wildvögel bestand. Hier war
das Plateau bestimmt unzugänglich, und hätte es nicht direkt an
der Basis der Felswand eine feste Kante gegeben, so hätten wir
umkehren müssen. Mehrere Male steckten wir bis zum Gürtel
im Schlamm eines Sumpfes. Obendrein schien dieser Ort ein
beliebter Brutplatz der Jaracara-Schlange zu sein, der
angriffslustigen und gefährlichsten Giftschlange Südamerikas.
Immer wieder krochen und zischten diese schrecklichen
Kreaturen über die Oberfläche des fauligen Morastes auf uns
zu. Nur mit ständig schußbereit gehaltenem Gewehr fühlten
wir uns vor ihnen einigermaßen sicher.
Eine trichterförmige, von faulendem Moos blaßgrün
gefärbte Bodenvertiefung werde ich zeitlebens nicht vergessen.
Sie muß ein besonders bevorzugter Aufenthaltsort dieses
Natterngezüchts gewesen sein. Ihre Hänge wimmelten von
Schlangen, die alle auf uns zugekrochen kamen. Es ist eine
Eigenart der Jaracara, Menschen anzugreifen, ohne von ihnen
auf irgendeine Art belästigt oder angegriffen worden zu sein.
Zum Erschießen waren es zu viele. So ergriffen wir die Flucht
und rannten, bis wir nicht mehr konnten. Nie werde ich
vergessen, wie wir beim Zurückblicken noch weit hinter uns
die Köpfe und Hälse unserer Verfolger zu Dutzenden auf- und
niederwogen sahen. Auf unserer Karte bezeichneten wir diese
Stelle als Jaracara-Sumpf.
Die Klippen hatten ihre rötliche Färbung verloren und
waren nun schokoladenbraun. Die Vegetation war spärlicher
geworden und die Höhe der Felskante auf drei- oder
vierhundert Fuß abgesunken. Aber an keiner Stelle konnten wir
einen Punkt entdecken, von dem aus sich ein Aufstieg
versuchen ließ.
»Es muß doch irgendwie Wasserrinnen in den Felsen geben«,
sagte ich bei unserer Lagebesprechung. »Irgendwo muß das
Regenwasser abfließen.«
»Unser junger Freund hat lichte Momente«, meinte
Professor Challenger daraufhin und klopfte mir wohlwollend
auf die Schulter.
»Irgendwo muß das Regenwasser doch abfließen«,
wiederholte ich.
»Normalerweise schon«, sagte Professor Challenger. »Leider
konnten wir aber aller Logik zum Trotz keine Wasserrinnen
entdecken.«
»Wo bleibt dann das Regenwasser?« fragte ich.
»Wenn es nicht nach außen ablaufen kann, dann wird es
wohl nach innen ablaufen.«
»Demnach müßte es auf dem Plateau einen See geben.«
»Das ist anzunehmen.«
»Und es ist weiterhin anzunehmen«, sagte Professor
Summerlee, »daß sich das Wasser in einem alten Krater
sammelt, denn die Formation dieser
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