Die Vergessene Welt
wissen Sie«, sagte Lord John. »Aber
Sie haben sich mir unterzuordnen, wenn etwas in mein
Ressort fällt.«
»In Ihr Ressort?«
»Jeder von uns hat seinen Beruf, und meiner ist nun einmal
der des Soldaten. Wenn ich die Situation richtig einschätze,
sind wir im Begriff, ein fremdes Land zu erforschen, das vom
Feind besetzt sein kann. Sich aus Mangel an gesundem
Menschenverstand und Geduld blindlings da hineinzustürzen,
entspricht nicht meinen Vorstellungen von Kriegsführung.«
Challenger nahm die Argumente lächelnd hin. »Und was
schlagen Sie vor, Lord John?« fragte er.
»Wer weiß, ob nicht eine Bande von Kannibalen in den
Büschen hockt und auf ein gutes Mittagessen wartet«,
antwortete Lord John. »Wenn man nicht in den Kochtopf
wandern will, sollte man sich erst Gewißheit verschaffen. Wir
wollen zwar hoffen, daß uns da drüben nichts Unliebsames
erwartet, werden uns aber so verhalten, als wäre es der Fall.
Malone und ich werden also wieder runterklettern und die vier
Gewehre, Gomez und die anderen heraufholen. Anschließend
kann einer von uns über den Baumstamm gehen, während die
anderen ihm Schützenhilfe leisten. Erst wenn feststeht, daß
nichts passieren kann, kommen die anderen nach.«
Challenger setzte sich auf den Baumstamm und stöhnte vor
Ungeduld, aber Professor Summerlee und ich waren derselben
Meinung und fanden, daß man sich nach den Anweisungen
Lord Johns richten sollte, wenn es um praktische Dinge ging.
Jetzt, wo uns an der schlimmsten Stelle das Seil zur Verfügung
stand, war das Klettern bedeutend einfacher. Es dauerte eine
knappe Stunde, bis die vier Gewehre und eine zusätzliche
Schrotflinte nach oben geschafft waren. Auch die Mischlinge
waren auf die Felszinne geklettert. Auf Lord Johns Anweisung
hin hatten sie sogar Verpflegung mitgebracht, denn wir
konnten ja nicht wissen, wie lange sich der erste
Erkundungsgang ausdehnen würde.
Jeder von uns schnallte sich Patronengurte um.
»So, Professor Challenger«, sagte Lord John, als alle
Vorbereitungen getroffen waren. »Wenn Sie wirklich der erste
sein wollen, der den Fuß auf das unbekannte Land setzt, dann
darf ich bitten.«
»Zu großzügig von Ihnen«, sagte der Professor. »Wenn Sie
mir schon die Erlaubnis erteilen, werde ich die Gelegenheit
ergreifen und – wie immer – Pionierarbeit leisten.«
Er schwang sich das Beil über die Schulter, hockte sich so
auf den Baumstamm, daß links und rechts ein Bein
herunterbaumelte, und hoppelte in dieser Stellung über die
Brücke.
Auf der anderen Seite angekommen, warf er die Arme in die
Luft.
»Endlich!« rief er zu uns herüber. »Endlich ist es soweit.«
Besorgt sah ich zu ihm hinüber. Ich hatte Angst, daß sich
jeden Augenblick etwas Furchtbares aus dem grünen Vorhang
lösen und auf ihn stürzen könnte. Aber alles blieb ruhig. Nur
ein sonderbarer buntschillernder Vogel flog vom Boden auf
und verschwand in den Bäumen.
Summerlee ging als zweiter. Die zähe Energie in seinem
zerbrechlichen Körper war bewundernswert. Er bestand darauf,
sich zwei Gewehre umzuhängen. So waren beide Professoren
bewaffnet, als er drüben ankam. Der nächste war ich. Ich gab
mir große Mühe, nicht nach unten in die schreckliche Tiefe zu
blicken. Summerlee hielt mir seinen Gewehrkolben hin, und
einen Augenblick später ergriff ich seine ausgestreckte Hand.
Dann kam Lord John. Er ging hinüber – aufrecht, ohne jede
Stütze! Er muß Nerven aus Stahl haben.
Nun waren wir alle vier im Traumland angelangt, in der
verschollenen Welt des Maple White. Wir alle empfanden dies
als den Augenblick größten Triumphes. Wer hätte vermutet,
daß er der Auftakt zu unserem tiefsten Unglück war?
§
Wir hatten uns vom Rande entfernt und waren etwa fünfzig
Meter weit durch dichtes Gebüsch vorgedrungen, als wir hinter
uns ein fürchterliches Krachen hörten. Wie ein Mann stürzten
wir an unseren Ausgangspunkt zurück. Die Brücke war nicht
mehr da!
Ich beugte mich vor und sah weit unten, am Fuß der
Klippen, eine Masse von Ästen und zersplittertem Holz. Das
war unsere Buche! War der Rand der Plattform abgebröckelt
und hatte den Baum abrutschen lassen? Für einen Augenblick
schien uns dies die einzig mögliche Erklärung. Aber dann
schob sich an der uns abgewandten Seite des Felsenturms ein
dunkelhäutiges Gesicht hervor: das Gesicht von Gomez, dem
Mestizen. Ja, es war Gomez. Aber nicht mehr der Gomez mit
dem beflissenen Lächeln und dem
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