Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
haben, die Widerstandskämpfer zum Schweigen zu bringen? Vielleicht ein weiterer Altnazi, der ihm bis jetzt entgangen ist, oder ein Geschichtsrevisionist? Das ist doch verrückt, denn handelte es sich um einen weiteren Nazi, wäre Jonathan wahrscheinlich auch auf dessen Spur gewesen.
Kimski dreht den Topf wieder um. Die Tretmine kommt wieder zum Vorschein. Dann würde also doch wieder alles passen, nur dass es einen weiteren Verdächtigen gibt, von dem ihm noch niemand etwas erzählt hat. Und dieser jemand muss auch das Geld geholt haben.
»Warum nicht?«, denkt Kimski, legt sein Fundstück zurück ins Gras und steht auf. Das wäre immerhin eine Möglichkeit, aber an welcher Stelle soll er jetzt weitermachen? Die einzige Zeugin, die er im Moment noch auf der Liste hat, ist diese mysteriöse Klara, von der er nicht mal den Nachnamen kennt.
29.
Juni 1957
Mannheim
Als sie vor der Baustelle stand, musste sie an den Abend in der Kirche denken, damals vor so vielen Jahren. Der Missionar hatte recht behalten, die Trinitatiskirche war bei einem der letzten Bombenangriffe im Krieg komplett in sich zusammengestürzt. Es war wahrlich kein Stein auf dem anderen geblieben und es hatte Monate gedauert, bis der Schutt komplett abgetragen war. Danach hatte man notdürftig aus den Brettern ehemaliger Armeebaracken eine Übergangskirche zusammengezimmert. Was dann passiert war, hatte sie nicht mehr mitbekommen, denn sie hatte einen Mann kennengelernt, Karl, und war zu ihm nach Karlsruhe gezogen.
Karl und Klara in Karlsruhe, das klang gut, immerhin. Wohlgefühlt hatte sie sich nie. Oder war sie wenigstens zu Beginn der Beziehung glücklich gewesen und hatte es nur vergessen? Es war eine wirre Zeit, die ersten Jahre nach dem Krieg, und sie war damals so jung gewesen.
Mittlerweile glaubte sie, sich wie eine alte Frau zu fühlen. Die Last eines langen Lebens lag bereits auf ihren Schultern, obwohl sie gerade erst dreißig geworden war. Karl hatte sie an ihrem ersten Arbeitsplatz im Lager einer Fabrik kennengelernt. Er war groß, etwas älter als sie und sah gut aus. Sie selbst war neunzehn und Karl der erste Mann, der ihr Avancen machte.
Ja, doch, zum damaligen Zeitpunkt fühlte es sich gut an. Ein adretter junger Mann, der ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Hingegen war sie auf das, was danach kam, nicht wirklich vorbereitet gewesen. Schon nach wenigen Wochen hatte er sie so weit, dass sie mit ihm schlief, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte. Denn Klara wusste nicht, wie sie es mit ihrem Glauben vereinbaren sollte, und sie hatte auch Angst davor gehabt, aber dann war es einfach passiert. Obwohl sie es in dem Moment auch gewollt hatte, fühlte sie sich danach furchtbar. Wie aber hätte sie es wieder rückgängig machen sollen?
Schließlich blieb sie bei ihm, gab sich ihm immer wieder hin. Vielleicht würde er sie ja heiraten, dachte sie damals. Es waren einige Monate vergangen, die sie zusammen verbracht hatten, als Karl ihr eröffnete, er werde nach Karlsruhe gehen, weil er dort Arbeit gefunden hätte. Ob sie mit ihm gehen wolle, hatte er sie gefragt, und sie stimmte zu. Was hätte sie auch entgegnen sollen. Als sie ihren Eltern davon erzählte, waren diese zu ihrem Erstaunen nicht schockiert. Im Gegenteil, sie waren ganz froh darüber, in der winzigen Wohnung eine Person weniger durchfüttern zu müssen. Und Karl würde gut verdienen, was war dagegen also einzuwenden?
Doch von da an war alles bergab gegangen. Karl dachte gar nicht daran, sie zu heiraten. Das sei etwas für Kleingeister, hatte er ihr erklärt. Er könne auch ohne Trauschein glücklich sein. Sie wollte mit ihm darüber sprechen, doch langsam musste sie feststellen, dass sie beide nicht offen miteinander reden konnten. All das, was sie ihm sagen wollte, verstand er nicht, als spräche sie eine andere Sprache. Oder es kam nicht bei ihm an, wie ein Funkspruch, der auf einer anderen Frequenz als die des Empfängers gesendet wird. Ihren Glauben, das, was sie im Krieg erlebt hatte, oder ihre Zeit als Angehörige der Widerstandsgruppe eingeschlossen: »Der Krieg ist vorbei. Lass das doch jetzt, denk an die Zukunft.«
Doch Klara wollte nicht nur an die Zukunft denken, sondern immer öfter über die Vergangenheit sprechen. Aber da war niemand, dem sie sich hätte mitteilen können. Und war es nicht so, dass die Vergangenheit nicht auch die Zukunft beeinflusste? War es nicht so, dass die Arbeit des Widerstands – nicht nur die ihrer Gruppe – nach dem Krieg
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