Die vergessenen Welten 01 - Der gesprungene Kristall
seine Fittiche genommen hatte.
Sie war so alt wie er, doch in vielerlei Hinsicht schien sie viel älter zu sein. Sie verfügte über einen starken Realitätssinn, der ihr Temperament ausgeglichen hielt. Andererseits würde Catti-brie in vielem immer ein Kind bleiben, so wie sie wohl zeitlebens ihren hüpfenden Gang beibehielt. Dieses ungewöhnliche Zusammentreffen von Leidenschaft und Ruhe, Gelassenheit und zügelloser Freude faszinierte Wulfgar und brachte ihn immer wieder aus dem Gleichgewicht, wenn er sich mit ihr unterhielt.
Natürlich gab es auch noch andere Gefühle, die Wulfgar bedrängten, wenn er mit Catti-brie zusammen war. Sie war unbestritten schön, ihr dickes, kastanienbraunes Haar lockte sich über ihren Schultern, und ihre schwarzblauen, durchdringenden Augen ließen jeden Freier unter ihrem forschenden Blick erröten. Doch sie hatte auch etwas an sich, das über äußere Schönheit hinausging und Wulfgars Interesse weckte. Catti-brie war ein Problem für ihn, denn sie war eine junge Frau, die nicht der Rolle entsprach, auf die er sich in der Tundra eingestellt hatte. Er war sich nicht sicher, ob ihm ihre Unabhängigkeit gefiel. Aber er konnte nicht abstreiten, welche Anziehungskraft sie auf ihn hatte.
»Du bist oft hier oben, nicht wahr?« fragte Catti-brie. »Wonach suchst du?«
Wulfgar zuckte die Achseln; eigentlich wußte er es selbst nicht genau.
»Nach deiner Heimat?«
»Danach und nach anderen Dingen, von denen eine Frau nichts versteht.«
Catti-brie ging lächelnd über die Beleidigung hinweg, die er ohne Absicht ausgesprochen hatte. »Dann sag es mir!« forderte sie ihn auf. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Spott. »Vielleicht kann meine Unwissenheit eine neue Sichtweise auf diese Probleme eröffnen.« Sie hüpfte auf den Steinen entlang an dem Barbaren vorbei und nahm neben ihm auf dem Fenstervorsprung Platz.
Wulfgar bewunderte ihre anmutigen Bewegungen. Es gab nicht nur die merkwürdigen Gegensätzlichkeiten in ihrer Gefühlswelt, sondern auch ihr Körper war ein Rätsel. Catti-brie war groß, schlank und zierlich, aber da sie in den Höhlen der Zwerge aufgewachsen war, war sie harte und schwere Arbeit gewöhnt.
»Es geht um Abenteuer und einen Schwur, der nicht erfüllt wurde«, erklärte Wulfgar geheimnisvoll, vielleicht, um das junge Mädchen zu beeindrucken, aber wohl eher, um seine Meinung zu bestärken, wofür sich eine Frau interessieren sollte und wofür nicht.
»Ein Schwur, den du erfüllen willst«, folgerte Catti-brie, »sobald du die Gelegenheit dazu erhältst.«
Wulfgar nickte ernst. »Es ist mein Erbe. Diese Last wurde mir übertragen, als mein Vater getötet wurde. Der Tag wird kommen...« Seine Stimme verlor sich, und er sah wieder sehnsüchtig auf die leere, weite Tundra hinter Kelvins Steinhügel.
Catti-brie schüttelte den Kopf, und ihre kastanienbraunen Locken flogen ihr um die Schultern. Sie konnte genug hinter Wulfgars geheimnisvollen Worten erahnen, um zu wissen, daß er eine gefährliche, wahrscheinlich selbstmörderische Mission im Namen der Ehre im Sinn hatte. »Was dich antreibt, kann ich nicht sagen. Ich wünsche dir Glück bei deinem Abenteuer, aber wenn du es aus keinem besseren Grund unternehmen willst als dem, den du angeführt hast, verschwendest du dein Leben.«
»Was weiß eine Frau schon von Ehre?« gab Wulfgar wütend zurück.
Aber Catti-brie ließ sich nicht einschüchtern und steckte auch nicht zurück. »Was schon?« wiederholte sie. »Glaubst du wirklich, daß für alles, was du in deinen übergroßen Händen hältst, nie ein besserer Grund genannt werden kann als das, was dich unter deinen Hosen ziert?«
Wulfgar lief dunkelrot an und drehte sich um; er war unfähig, auf ihre Direktheit einzugehen.
»Außerdem«, fuhr Catti-brie fort, »kannst du über den Grund, weswegen du heute hier oben bist, sagen, was du willst. Ich weiß trotzdem, daß du dir vor allem Sorgen um Bruenor machst, und du hast das ja auch nicht abgestritten.«
»Du weißt nur, was du gerne wissen möchtest!«
»Du bist ihm sehr ähnlich«, wechselte Catti-brie abrupt das Thema und ging über Wulfgars Bemerkung hinweg. »Du bist dem Zwerg ähnlicher, als du jemals zugeben würdest!« Sie lachte. »Ihr beide seid dickköpfig und stolz, und keiner von euch würde die Gefühle zugeben, die er für den anderen empfindet. Mach es, wie du willst, Wulfgar von Eiswindtal. Mich kannst du ruhig anlügen, aber dich selbst... das ist etwas anderes!« Sie sprang von dem Fels
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