Die vergessenen Welten 05 - Der magische Stein
Bruenors Augen war nichts so, wie es sein sollte. Er sah aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Unseligerweise sah er auch dort lediglich das Spiegelbild des kerzenbeleuchteten Zimmers, die Krone und die Rüstung des Königs von Mithril-Halle.
Es war eine anstrengende Woche für Bruenor gewesen. Jeder Tag war mit Aufregungen über die Ankunftszeiten der Armeen von der Zitadelle Adbar und aus Eiswindtal und den Planungen über die Rückeroberung von Mithril-Halle ausgefüllt gewesen. Von dem vielen Schulterklopfen, mit dem ihn die Harpells und andere Besucher im Herrenhaus bedachten, tat ihm alles weh. Alle waren eifrig bemüht, ihm im voraus zur Rückkehr auf seinen Thron zu gratulieren.
Aber Bruenor war in den vergangenen Tagen geistesabwesend gewesen. Er hatte jetzt eine Rolle zu spielen, die er noch gar nicht richtig würdigen konnte. Es war an der Zeit, das Abenteuer vorzubereiten, von dem Bruenor während seines Exils fast zweihundert Jahre lang geträumt hatte. Der Vater seines Vaters war König von Mithril-Halle gewesen und dessen Vater zuvor. Diese Reihe ließ sich bis zu den Anfängen der Sippe Heldenhammer zurückverfolgen. Aufgrund seines Geburtsrechts wurde von Bruenor erwartet, daß er die Armeen führte und Mithril-Halle zurückeroberte, damit er auf dem Thron sitzen konnte, der ihm rechtmäßig zustand.
Aber er war gerade dort gewesen, in den Hallen der uralten Zwergenheimat, wo Bruenor Heldenhammer erkannt hatte, was für ihn wirklich wichtig war: Während der vergangenen zehn Jahre waren vier Kameraden in sein Leben getreten, von denen kein einziger ein Zwerg war. Die Freundschaft der fünf hatte etwas Größeres geschmiedet als ein Zwergenkönigreich und war für ihn wertvoller als alles Mithril in den Welten. Sein Traum war die Rückeroberung gewesen, doch das kam ihm jetzt nur noch hohl vor.
Die Ängste der Nacht beherrschten Bruenors Herz und Denken. Der Traum, niemals der gleiche, aber immer einer mit dem gleichen schrecklichen Schluß, löste sich nicht mit dem Tageslicht auf.
»Wieder einer?« fragte eine sanfte Stimme an der Tür. Bruenor sah über die Schulter auf Catti-brie.
Bruenor wußte, daß er keine Antwort zu geben brauchte. Er senkte den Kopf und rieb sich die Augen.
»Wieder von Regis?« fragte Catti-brie, während sie näher kam. Bruenor hörte, wie die Tür leise geschlossen wurde.
»Knurrbauch«, verbesserte Bruenor mit weicher Stimme. Es war ein Spitzname, dem er den Halbling gegeben hatte, der seit fast zehn Jahren sein engster Freund war.
Bruenor legte sich wieder aufs Bett. »Ich sollte bei ihm sein«, sagte er mürrisch, »oder zumindest bei dem Dunkelelfen und Wulfgar, um ihn zu suchen.«
»Dein Königreich erwartet dich«, erinnerte ihn Catti-brie, eher um seine Schuldgefühle zu zerstreuen, als um ihm seine Überzeugung auszureden, wo er wirklich hingehörte — eine Überzeugung, die die junge Frau mit ganzem Herzen teilte. »In einem Monat wird deine Sippe aus Eiswindtal eintreffen und die Armee aus Adbar in zwei Monaten.«
»Ja, aber wir können sowieso erst zu den Hallen marschieren, wenn der Winter vorbei ist.«
Catti-brie sah sich im Zimmer um und suchte nach einer Möglichkeit, das Gespräch zu beleben. »Das steht dir gut«, meinte sie dann fröhlich und zeigte auf die juwelenbesetzte Krone.
»Was?« hakte Bruenor mit einem scharfen Unterton in der Stimme nach.
Catti-brie sah auf den verbeulten Helm, der neben der prächtigen Krone erbärmlich aussah, und beinahe hätte sie verächtlich geschnaubt. Aber bevor sie eine Bemerkung abgab, sah sie zu Bruenor zurück. Der finstere Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag, während er den alten Helm musterte, sagte ihr, daß Bruenor nicht spaßeshalber gefragt hatte. In diesem Augenblick erkannte Catti-brie, daß Bruenor den einhörnigen Helm für kostbarer hielt als die Krone, die ihm bestimmt war.
»Sie sind auf halbem Weg nach Calimhafen«, bemerkte Catti-brie, die großes Mitgefühl mit den Wünschen des Zwerges hatte. »Vielleicht schon weiter.«
»Ja, und wegen des bevorstehenden Winters verlassen nur wenige Schiffe Tiefwasser«, murmelte Bruenor bitter und wiederholte damit die Einwände, die Catti-brie an seinem ersten Morgen im Efeu-Herrenhaus vorgebracht hatte, als er den Wunsch geäußert hatte, seinen Freunden zu folgen.
»Vor uns liegen zahlreiche Vorbereitungen«, sagte Catti-brie, die hartnäckig an ihrem fröhlichen Ton festhielt. »Der Winter wird bestimmt schnell vorbei sein, und wir
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